Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Die neue E-Klasse

Das digitale Sommersemester endet mit der Online-Klausur. Damit ändert sich einiges. Unser Autor zieht ein Resümee seiner ersten elektronischen Prüfungserfahrung.

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Wer mir am Anfang des Jahres erzählt hätte, ich würde dieses Semester meine Uni-Prüfungen online ablegen, den hätte ich ausgelacht. Doch genau so ist es eingetreten: Die vergangenen Wochen saß ich wie Tausende anderer Mannheimer Studenten an meinem Schreibtisch zu Hause und habe Klausur geschrieben. Ich studiere an der Uni Mannheim, die hat internationale Semesterzeiten. Die Vorlesungen beginnen im Herbst bereits im September und im Früjahrssemester im Februar. Als der Corona-Lockdown im März kam, befanden wir uns also mitten im Semester, und die Lehre musste sich von heute auf morgen auf Online umstellen.

Am 15. Mai teilte die Universität mit, dass die Klausuren in den ersten beiden Juniwochen größtenteils online geschrieben würden: als Take-home-Klausuren. Alles orientiert sich dabei an den analogen Prüfungen und dem zu Beginn des Semesters veröffentlichten analogen Prüfungsplan. An einem bestimmten Termin kann man zu einer festen Uhrzeit im eigens erstellten Prüfungsbereich des digitalen Studentenportals der Uni seine Klausur im PDF- und Word-Format herunterladen. Nach der Bearbeitungszeit lädt man die ausgefüllte Klausur im Prüfungsportal wieder hoch. Für Down- und Upload bekommt man jeweils zehn Minuten extra.

Das hört sich schummelfreundlich an, und das ist es, denn was während der Bearbeitung passiert, kann niemand überprüfen. Unerlaubte Hilfsmittel benutzen, telefonieren oder die Klausur gemeinsam schreiben, das alles ist ohne Probleme möglich. Video-Überwachung gibt es keine. Aber eine schöne neue Studentenwelt ist das mitnichten. In der Heimklausur verschärfen sich die Nachteile im Vergleich zur klassischen Klausur. Begründet liegt das in dem Irrtum, man könne das Analoge einfach in das Digitale übertragen und die Qualität bliebe die gleiche. Dass das nicht funktioniert, haben wir Studenten und die Dozenten schon in den vergangenen Wochen erlebt, als wir versuchten, analoge Uni im digitalen Raum zu spielen. Wir haben das gut gemeistert, aber eine wirkliche digitale Uni war das nicht. Denn die Mehrzahl der Hochschulen hat in den vergangenen Jahren versäumt, den digitalen Wandel zu reflektieren und geeignete Formate für digitalisierte Lehre zu entwickeln.

Schwer wiegt dieses Versäumnis bei den Klausuren. Um das zu verstehen, hilft es, sich klarzumachen, was sie bedeuten. Aus meinen Klausurerfahrungen heraus möchte ich Folgendes formulieren: Der Sinn von Klausuren besteht darin, bei gleichen Rahmenbedingungen Wissen unter Zeitdruck abzufragen, so dass ein Vergleich aller Prüflinge möglich ist. Diese Gleichung „Klausur = Wissen + Zeitdruck + gleiche Rahmenbedingungen“ ist bei einer Online-Klausur aber nicht gegeben. Diesen Gedanken möchte ich anhand meiner Marketing-Klausur deutlich machen.

Schummeln unter Zeitdruck

Uni-Klausuren legen ihren Fokus oft auf die bloße Reproduktion von erlerntem Wissen. Nur ein kleiner Teil prüft Wissenstransfer ab. Dass das bei einer Heimklausur keinen Sinn ergibt, ist offensichtlich. Der Großteil der Online-Klausuren wurde daher als OpenBook-Format realisiert. Es ist also erlaubt, während der Klausur in das Vorlesungsskript zu schauen. Dabei legen die Professoren den Fokus der Klausur verstärkt auf den Wissenstransfer. Im Falle meiner Marketing-Klausur, die der Lehrstuhl als einen Mix aus Multiple Choice und freien Fragen konzipierte, war das im Vergleich zu den BWL-Klausuren in einem „normalen“ Semester erfrischend anders, denn ich musste bei der Beantwortung der Fragen tatsächlich nachdenken und nicht nur auswendig gelernte Konzepte auf das Blatt schreiben. Der Blick in das Skript hat also niemandem geholfen, der nicht verstanden hat, was dort steht.

Durch die alleinige Fokusverschiebung von Reproduktion auf Transfer ist die Variable Wissen aber noch lange nicht gegeben. Denn die Open-Book-Klausur kann so mitunter nur prüfen, wie schnell die Studenten im Skript blättern und nachlesen können, nicht aber, ob sie auch aktiv Wissen abrufen können. Während meiner Klausurvorbereitung habe ich etwa einen Kommilitonen gefragt, inwiefern er dieses Semester auswendig lerne. Er schaute mich verdutzt an und erwiderte: „Du musst nichts auswendig können. Du musst nur wissen, wo es im Skript steht!“ Um das lustige Blättern im ausgedruckten Skript – oder viel einfacher noch, die Suchfunktion im digitalen Skript – zu erschweren, muss der Zeitdruck während der Klausur extrem hoch sein. Nur wer nicht nachschlägt, hat die Chance, alle Fragen zu beantworten. Ich habe während meiner Klausur nur ein paarmal im Skript nachgeschlagen, folglich musste ich am Ende der Bearbeitungszeit nur einige Multiple-Choice-Antworten raten. Dass ich so wenig nachgeschlagen habe, lag tatsächlich daran, dass ich viel vorab gelernt hatte. Erst der starke Zeitdruck ermöglicht die Abfrage von Wissen.

Ungleiche Bedingungen

In einer Online-Klausur nach analogem Vorbild sind Wissen und Zeitdruck also in gegenseitiger Verschränkung gegeben. Von gleichen Rahmenbedingungen kann jedoch keine Rede sein. Bei einer klassischen Klausur schreiben alle Studenten in einem Raum, sie sind also den gleichen Umwelteinflüssen ausgesetzt. Das hört sich banal an, das ist es aber nicht. Denn zentral für eine Klausur ist ja der Zeitdruck, jedes Störmoment kostet wertvolle Sekunden. In meinem Fall bin ich privilegiert, ich wohne in einem Studentenwohnheim. In den zwei Wochen der Prüfungsphase war es dort mucksmäuschenstill. Von der Wohnheimleitung kam sogar eine E-Mail mit der Aufforderung, besonders leise zu sein. Aber was ist mit meinen Kommilitonen, die dieses Glück nicht haben? Wie kann man hochkonzentriert eine Prüfung schreiben, wenn man etwa in einer lauten Wohnung wohnt?

Außerdem ist der Erfolg der Online-Prüfung stark von der Technik abhängig, die man besitzt. Auch hier war ich im Vorteil. Mein Internet funktioniert zuverlässig, und von einem Mitbewohner habe ich mir einen zweiten Bildschirm ausgeliehen, der mir viele Minuten Arbeitszeit geschenkt hat. Denn zwischen den Multiple-Choice-Fragen und dem Ankreuzfeld für die Antworten lagen elf Seiten. Ich konnte dank der zwei Bildschirme die Klausur zweimal öffnen: Auf einem Bildschirm habe ich die Fragen gelesen, auf dem anderen konnte ich parallel die Kreuze in die (hoffentlich) richtigen Antwortfelder setzen. Ansonsten hätte ich stetig scrollen oder die Antworten erst analog auf ein Blatt Papier schreiben müssen, um sie am Ende in das Antwortfeld zu übertragen.

Eine Kommilitonin hat diese Papier-methode gewählt. Sie hat mir erzählt, dass sie für die Übertragung der 36 Kreuze am Ende fünf Minuten gebraucht hat. Ich konnte also fünf Minuten länger nachdenken als sie. Und das nicht etwa weil ich schneller oder klüger war als sie, sondern lediglich aufgrund meiner besseren technischen Ausstattung. Bei einer neunzigminütigen Klausur, die auf Zeitdruck beruht, sind fünf Minuten ein unverschämter Vorteil. Denn je besser das Zeitmanagement, desto wahrscheinlicher ist eine gute Note.

Der Klausurerfolg hängt damit nicht nur von den eigenen Fähigkeiten ab, sondern maßgeblich von äußeren Umständen. Ein ruhiger Arbeitsraum oder ein zweiter Bildschirm sind dafür nur zwei Beispiele, diese Liste ließe sich noch lange fortführen – ohne dabei von potentiellen Möglichkeiten zum Schummeln zu sprechen. Doch deutlich wird schon eines: Die Online-Klausur setzt Vergleichbarkeit voraus, wo sie nichts gleichsetzen darf, da sie ihren Teilnehmern nicht die gleichen Rahmenbedingungen gewährleisten kann.

Die Gleichung einer klassischen Prüfung „Klausur = Wissen + Zeitdruck + gleiche Rahmenbedingungen“ sieht nach der Überführung in das Online-Format damit wie folgt aus: „Klausur = Wissen + gesteigerter Zeitdruck + ungleiche Rahmenbedingungen“. Auch ohne Algebra-Kenntnisse sieht man, dass das nicht gleich ist. Nun mag das mangels Alternativen in der Ausnahmesituation einer Pandemie vertretbar sein. Aber bemängeln muss man den grundlegenden Irrtum doch: Das Analoge lässt sich nicht einfach in das Digitale übertragen. Wo das Digitale immer wichtiger wird, und das trifft auch auf eine Hochschullandschaft ohne Corona zu, ist es an der Zeit, neue Prüfungsformate zu entwickeln, die ihren Grundsätzen treu bleiben dürfen.