Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Nerdalarm: Wie man menschliche Bewegung fernsteuert

Eigentlich ist Thomas Seel Ingenieur. Sein aktuelles Projekt an der TU Berlin reicht jedoch weit in die Medizin hinein. Er und seine Kollegen entwickeln Algorithmen, die verlorene Bewegungen bei Menschen zurückrufen und dabei gänzlich neue Sinneseindrücke erzeugen. Dritter Teil unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.

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Ein Inertialsensor an der Hand gehört für Thomas Seel zur Berufskleidung.© Michael GromotkaEin Inertial-Sensor an der Hand gehört für Dr.-Ing. Thomas Seel zur Berufskleidung.

F.A.Z.: Ihr Forschungsgebiet heißt „Geregelte Neuroprothetik“. Was verbirgt sich dahinter, das Menschen ins Staunen versetzen könnte?

Thomas Seel: Wir bringen Muskeln und Körperteile, die eigentlich gelähmt sind, wieder zur Bewegung. Das heißt: Unter bestimmten Bedingungen gelingt es uns, wieder funktionale Bewegungen zu erzeugen – zum Beispiel das Fahrradfahren, Greifen oder das Ausführen einer Armbewegung.

Welchen Personenkreis haben Sie bei der Anwendung im Blick?

Unsere Entwicklungen zielen vor allem auf Querschnittsgelähmte und Schlaganfallpatienten. Wir entwickeln so genannte Neuroprothesen, die diesen Patienten helfen sollen, die verloren gegangenen Bewegungen wieder auszuführen. Beispiele sind Fahrradfahren bei Querschnittsgelähmten oder die Unterstützung von bestimmten Bewegungen im Gang von Schlaganfallpatienten.

Könnten Sie auch jemanden, dessen Beine komplett gelähmt sind, und der im Rollstuhl sitzt, wieder gehend machen?

Das ist leider nicht der Fall. Wir regen die Muskeln künstlich durch Oberflächenelektroden an, die wir auf die Haut aufkleben. Zum Gehen werden jedoch sehr viele Muskeln benötigt, die wir auf diese Weise nicht gut erreichen können, weil sie nicht an der Körperoberfläche liegen. Aber es gibt Schlaganfallpatienten, die durchaus noch viele Dinge können, die sie zum Gehen brauchen würden. Allerdings fehlt ihnen eine Sache, wie beispielsweise die Fähigkeit, den Fußheber zu benutzen. Die Folge ist, dass solche Patienten trotz eines in Teilen erhaltenen Bewegungsapparats oft dennoch nicht gehen können. Durch künstliche Anregung des Muskels, die so genannte „neuromuskuläre Stimulation“, kann man diese Fußhebung wiederherstellen.

Wie geht das konkret?

Wir messen, wie die Bewegung gerade aussieht und vergleichen diese dann mit einer vom Mediziner definierten Bewegung. Aufgrund dessen errechnet das System eine elektrische Stimulation, also die künstliche Aktivierung des Muskels. Diese wird fortwährend angepasst, um die gewünschte Bewegung zu erzeugen. So lernen unsere Neuroprothesen, sich dem jeweiligen Patienten und seiner Muskeldynamik anzupassen und so seine individuellen motorischen Schwächen zu kompensieren.

Bringen Sie da ganz viel Technik am Menschen an – oder was ist erforderlich, damit ihr System funktionieren kann?

Erforderlich sind drei Dinge, die einem Menschen bis zu dem Moment, bei dem das zentrale Nervensystem entweder durch einen Schlaganfall oder bei Querschnittslähmung beschädigt wurde, ganz selbstverständlich vorgekommen waren. Das ist zum einen die Propriozeption, also die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Andererseits fehlt die Muskelaktivierung, also die Fähigkeit, jeden Muskel anzusteuern und die Kraft dosieren zu können. Zwischen diesem Input der Sensorik und dem Output der Aktorik hat jeder Mensch außerdem einen Haufen lernender Algorithmen, die ständig dafür sorgen, dass bestimmte Bewegungsabläufe entstehen. Das ist die dritte Komponente, die ebenfalls ersetzt werden muss.

Mithilfe von Inertialsensoren lässt sich die Position jedes Körperglieds erfassen. © Michael GromotkaMithilfe von Inertial-Sensoren lässt sich die Position jedes Körperglieds erfassen.

Und das ist Ihre Programmierung, also hier haken Sie ein?

Wir versuchen, all diese drei Komponenten so gut, wie es momentan geht, zu ersetzen. Zum einen bringen wir Sensoren am Körper der Patienten an, welche die Propriozeption ersetzen. Diese so genannten Inertial-Sensoren, die Sie ganz ähnlich aus Ihrem Mobiltelefon kennen, sollen in Echtzeit ermitteln, an welcher Stelle bestimmte Körperteile sind und wie schnell sie sich bewegen. Dann benutzen wir die bereits erwähnten Oberflächenelektroden, mit denen wir die Muskeln aktivieren. Zwischen diese beiden Systeme der Sensorik und der Aktorik legen wir schließlich unsere lernenden Regelungsalgorithmen. Das ist die ganze von uns programmierte Intelligenz, die versucht, das, was unser zentrales Nervensystem tut, so gut wie möglich nachzuempfinden.

Was können wir Menschen denn sensorisch, was wir uns im Alltag gar nicht bewusst machen, und was Sie jetzt ersetzen müssen?

Auf der sensorischen Seite geht es um die Wahrnehmung der Orientierung und der Lage der Körperteile im Raum. Die meisten Menschen sind zum Beispiel in der Lage, mit geschlossenen Augen die Finger vor dem Gesicht zusammenzuführen. Dieses Wissen um die Lage und Bewegung ist die bereits angesprochene „Propriozeption“ und funktioniert unabhängig von Ihren sonstigen Sinneswahrnehmungen. Wenn ein Mensch nun nicht mehr spürt, wo sein Bein oder seine Hand ist, dann kann er diese auch erheblich schlechter bewegen. Wir ersetzen das, indem wir an jedes Körpersegment, das gegenüber einem anderen beweglich ist, einen solchen Inertial-Sensor anbringen. Wenn man auf die Daten dieses Sensors geeignete mathematische Algorithmen loslässt, dann kann man daraus berechnen, wie beispielsweise Hand oder Arm gerade positioniert sind.

Kann ich mir das so vorstellen, dass Sie Posen oder Bewegungen auf dem Computer grafisch abbilden können? Können Sie also auf einem Bildschirm sehen, was die Person gerade tut?

Genau. Sie können auf dem Bildschirm einen Avatar darstellen, der sich genauso bewegt wie der Patient, der gerade die Sensoren trägt.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gewinnen Sie dadurch?

In dem Moment, in dem Sie eine Körperbewegung vom Arm oder Bein sichtbar machen können, können Sie zweierlei Dinge tun. Entweder Sie machen nur diese Bewegung wieder sichtbar, spürbar oder erlebbar für einen Patienten, der nur seine Sensorik verloren hat. Das ist eine sinnvolle Sache: Sie lassen beispielsweise jemanden, der an der Fußsohle nichts mehr spürt, wieder erfahrbar machen, ob mehr Druck auf dem Ballen oder auf der Ferse lastet, indem Sie es an einer Stelle am Oberschenkel vibrieren lassen. Schon fühlt man wieder indirekt, was unter der Fußsohle geschieht, obwohl man es ja eigentlich nicht mehr spüren kann. Diese Behandlungsmöglichkeit nennen wir „Bio-Feedback“.

Im Erleben spürt der Patient das aber trotzdem unter dem Fuß?

Nach einer sehr langen Zeit, in der das Gehirn trainiert, kann man das wieder so spüren, als wenn es unter dem Fuß wäre. Unser Gehirn gewöhnt sich daran. Ähnlich verhält es sich, wenn Sie eine Brille aufsetzen, in der oben und unten vertauscht sind. Dann sind Sie eine relativ lange Zeit weitgehend orientierungslos, aber irgendwann interpretiert Ihr Gehirn diese Signale völlig neu.

Mit dieser Arm-Neuroprothese erforschen Arne Passon und Thomas Seel Armbeugung, Armstreckung, Handgreifen und Handöffnung. © Michael GromotkaMit dieser Arm-Neuroprothese erforschen Arne Passon und Thomas Seel Armbeugung, Armstreckung, Handgreifen und Handöffnung.

Was wäre die zweite Behandlungsmöglichkeit der künstlichen Körpersensorik?

Sie können auch einem zusätzlich motorisch gelähmten Menschen helfen, den kompletten Kreis von Wahrnehmung bis zur Regelung und Steuerung der Bewegung abzubilden – das wären dann unsere „Neuroprothesen“.

Wie geht das vor sich?

Stellen Sie sich zum Beispiel einen Schlaganfall-Patienten vor, dem die Fußhebung und die Kniebeugung fehlen, der aber zum Beispiel seine Hüfte noch angemessen bewegen kann, um damit laufen zu können. In diesem Fall müssten wir eine Neuroprothese bauen, die einerseits erkennt, wo wir uns gerade im Schrittablauf befinden, ob also zum Beispiel das rechte oder das linke Bein als nächstes einen Schritt machen soll. Anschließend muss das System dann erkennen, ob das Knie gerade hinreichend gebeugt ist oder mehr gebeugt werden muss, und ob der Fuß hinreichend gehoben ist. Anhand dieser Daten entscheidet die Neuroprothese in Echtzeit, ob die Kniebeuge- und die Fußhebermuskeln mehr oder weniger stimuliert werden müssen – je nachdem, ob hinreichend Kniebeugung und Fußhebung vorhanden ist.

Welche Technik kommt dabei zum Einsatz?

Hier kommen unsere etwa lindenblattgroßen Oberflächenelektroden zum Einsatz, die wir auf der Haut anbringen. Zwischen jeweils zwei Elektroden werden winzige Stromimpulse verabreicht, die dann in den Nerven, die unter der Haut liegen, so genannte Aktionspotentiale auslösen. Diese lassen dann den Muskel kontrahieren. Es gehen außerdem Signale hoch zum Gehirn, weshalb man es tatsächlich auch spürt, dass gerade stimuliert wird. Es entsteht so ein sehr unbestimmter, eigenartiger Sinneseindruck, den man so noch nicht kennt.

Wie darf ich mir dieses Gefühl vorstellen? Geht es eher in Richtung Schmerz, oder ist es ein Kitzeln?

Es ist nur schwer vergleichbar. Es werden ja unter der Haut relativ beliebig Nerven gereizt, die an anderen Sinneszellen anliegen und eigentlich andere Signale weiterleiten, wie etwa die des Tastsinns. Die Signale, die durch die Reizung zum Gehirn geschickt werden, sind daher nicht exakt die gleichen, wie bei einer Berührung, einem Stich oder einem Kitzel, sondern es ist etwas Neues. Unser Gehirn hat jedoch die Eigenschaft, neue Reize im Körper immer sehr stark darzustellen. Mit zunehmender Gewöhnung wird jedoch immer weiter herunter reguliert. Die meisten Patienten tolerieren das Gefühl bereits nach einer sehr kurzzeitigen Anwendung.

Die Fähigkeit, beispielsweise wieder gehen zu können, wird also unter Umständen mit einer Art Schmerz erkauft?

Nein, das Gefühl ist kein Schmerz im eigentlichen Sinne. Der Effekt ist ein wenig mit jenem bei Menschen vergleichbar, die nach langer Taubheit durch eine Behandlung mit Cochlea-Implantaten nach zwanzig oder dreißig Jahren ihren ersten Ton hören können. Man würde ja denken, dass sich die meisten darüber freuen würden. Tatsächlich überwiegt jedoch zunächst die Überraschung, wie intensiv das Gehirn den bisher unbekannten Hörreiz darstellt. Die Patienten haben daher beim ersten Einschalten oft das Bedürfnis, dieses Gerät, das ihnen eigentlich hilft, sofort wieder auszuschalten.

Der erste Schritt der praktischen Umsetzung besteht darin, dass Sie die Neuroprothesen an sich selbst ausprobieren, bevor Sie damit an den Patienten gehen. Sie selbst tragen ja auch im Moment auf dem Handrücken einen Sensor.

Genau. Sowohl die Wissenschaftlichen Mitarbeiter als auch die Studenten, die bei uns in der Forschung mitarbeiten, testen die Programme immer erst an sich selbst, bevor wir damit gemeinsam mit unseren wissenschaftlichen Partnern in der Medizin unter streng festgelegten Bedingungen an den Patienten gehen.

Dieses Demo-Video der TU Berlin zeigt, wie durch die Verabreichung bestimmter Stromimpulse Muskeln ferngesteuert werden.

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Wenn Sie simulieren möchten, dass ein Teil des Gehapparats nicht mehr funktioniert, dann müssen Sie sich ja selbst dazu bringen, den fehlenden Teil nicht selbst auszuführen. Wie gelingt Ihnen das – durch Meditation?

Das ist nahezu unmöglich. Vor einigen Jahren hatten wir aber tatsächlich einmal einen Studenten, dem es nach wochenlangem Training einigermaßen erfolgreich gelungen ist, beim Gehen den Fuß nicht selbst absichtlich zu heben. Ansonsten sind die Mechanismen jedoch so stark eintrainiert, dass das kaum gelingt. Ob etwas wirklich funktioniert, werden Sie also immer erst am Patienten sehen.

Das bedeutet, dass Sie immer auch an der medizinischen Anwendung interessiert sind. 

Das stimmt. Auch wenn wir Methoden entwickeln, entwickeln wir sie immer mit einer gewissen Anwendung im Hinterkopf. Hier im Fachgebiet Regelungssysteme von Prof. Raisch gibt es auch Kollegen, die sehr theoretisch arbeiten und rein mathematisch neue Theorien und Beweise entwickeln. Aber selbst die haben in weiter Denkferne immer die Idee, dass diese Methoden einmal an einem praktischen Beispiel eingesetzt werden. Bei der Neuroprothesen-Entwicklung sind wir besonders nah an der Anwendung. Hier arbeitet jeder Kollege ganz konkret darauf hin, für eine bestimmte Gruppe von Patienten ein möglichst intelligentes technisches Hilfsmittel zu entwickeln, das sich automatisch dem individuellen Patienten und dessen Situation anpasst. Weil kein Patient wie der andere ist, muss alles, was sensorisch erfasst werden kann, möglichst intelligent genutzt werden, so dass sich das System möglichst gut anpassen kann. Das fängt schon bei der Anbringung der Sensoren an. Wir kleben diese in relativ beliebiger Orientierung auf den Körper. Nachdem man sich ein wenig bewegt hat, finden die Sensoren selbst heraus, wie sie angebracht sind – ähnlich wie ein Baby in seinen ersten Lebensmonaten herausfindet, was die Signale, die von den Propriozeptoren kommen, überhaupt bedeuten, wann also beispielsweise der Arm gebeugt oder gestreckt ist. Ohne eine solche Herangehensweise wäre unser System nicht in der Breite anwendbar.

Und das ist es auch, was Sie persönlich so daran fasziniert? Wir sind ja an einer Technischen Universität und Sie sind Ingenieur. Ich spüre aber auch ein ganz starkes Interesse am Patienten und an der Individualität der Menschen, auf die Sie jetzt hinarbeiten.

Ja, es ist natürlich außerordentlich faszinierend, wenn Sie an einer Schnittstelle von zwei Wissenschaften arbeiten können. Ich glaube, das geht vielen Menschen so. Bei uns ist die Medizin ständig präsent. Von dieser Wissenschaft können wir als Ingenieure zwar immer nur begrenzt viel wissen, und wir sind immer auf medizinische Experten angewiesen. Aber wir dürfen eben in die Nachbarwissenschaft hineinschauen, und wir dürfen versuchen, die von uns entwickelten, teilweise sehr mathematischen Methoden so gut wie möglich in der Praxis nutzbar zu machen. Das ist sehr spannend, wenn Sie vom mathematischen Algorithmus bis zum Patientenexperiment die gesamte Kette abdecken.

Können Sie tatsächlich den kompletten Weg mitgehen?

Das ist der übliche Weg, den hier fast alle Wissenschaftlichen Mitarbeiter gehen können. Die meisten werden mindestens einmal einen ganz konkreten mathematischen Algorithmus für ein Problem – beispielsweise diese automatische Erkennung der Sensoranbringung – auf dem Papier entwickeln, ihn dann in Form von Quellcode am Computer umsetzen und an sich selbst testen. Anschließend werden sie die Hardware so optimieren, dass dieser Algorithmus seine Wirkung entfalten kann und dann tatsächlich am Patienten Experimente durchführen.

Das heißt, die Kooperation mit der Medizin und Ihnen als Ingenieure ist wirklich mit Leben gefüllt.

Wir arbeiten viel mit der Charité und dem Unfallkrankenhaus Berlin zusammen und haben gute Beziehungen zur Brandenburgklinik. Dabei versuchen wir darzustellen, was technisch möglich ist, und die medizinischen Partner versuchen darzustellen, was medizinisch notwendig, sinnvoll und hilfreich ist.

Wie nah sind wir schon an der Umsetzung Ihrer Erkenntnisse in der Breite?

Gute Frage. Da müssen wir die Erwartungen der Patienten leider oft etwas bremsen. Es gibt einige Bereiche, in denen aktive Bewegungsunterstützung mit Elektrostimulation bereits als Produkt existiert; zum Beispiel gibt es seit sehr langer Zeit so genannte Fallfuß-Stimulatoren. Die Fußhebung kann also schon seit längerem von Geräten unterstützt werden – aber nur von solchen Geräten, die immer dann, wenn Sie die Ferse heben, die Fußheber stimulieren. Das tun sie jedoch immer in ein und demselben festgelegten, oftmals zu starken Maße, um sicherzugehen, dass die Fußhebung auch wirklich ausreichend erfolgt. Diese Systeme besitzen also keine Intelligenz und sind nicht in der Lage, sich anzupassen. Die dritte Komponente, die wir entwickeln und die ich vorhin beschrieben habe, fehlt also – nämlich die automatische, lernende Anpassung der Muskel-Aktivierungsmuster basierend auf den sensorischen Signalen, welche die ausgefallene Aktivität des zentralen Nervensystems ersetzt. Nun haben wir in einem Projekt einen intelligenten Fallfuß-Stimulator und damit eine echte Fallfuß-Neuroprothese entwickelt. Ein auf diesem Prinzip basierendes Gerät wurde gerade von einer Firma als Industrie-Prototyp weiterentwickelt. Das könnte dann wiederum an eine Firma gehen, die den Prototyp kaufen und dann erst einmal ein serienreifes Produkt daraus entwickeln muss. Das sind relativ lange Entwicklungszüge. Wenn wir eine Forschung zu einem System beendet und den Nutzen eines neuen Funktionsprinzips nachgewiesen haben, braucht es Firmen, die sich mit Medizinproduktezulassung und Marketing auskennen und die Produkte kompakt und attraktiv in der Handhabung machen können. Das ist etwas, das wir als forschende Uni ja nicht leisten können. Man muss also wissen, dass es, nachdem wir unsere Forschungsarbeiten vollständig abgeschlossen haben, noch mindestens fünf Jahre braucht, bis tatsächlich ein fertiges Produkt an den Patienten kommt. Und dazu kommt es auch nur, wenn es eine Firma gibt, die den Biss und den Drive hat, sich mit einem neuartigen System gegen konventionelle Ansätze durchzusetzen.

Die Gangunterstützung erproben die Wissenschaftler zunächst an sich selbst.© Michael GromotkaDie Gangunterstützung erproben die Wissenschaftler zunächst an sich selbst.

Welche Projekte haben Sie schon erfolgreich abgeschlossen?

Zum Beispiel das zur intelligenten Fußhebung. Da haben wir gezeigt, welche Vorteile eine intelligente Anpassung des Stimulationsmusters hat. Aber auch die Erzeugung von funktionellen Armbewegungen in der wiederholungsintensiven Armrehabilitation ist etwas, das wir erfolgreich können, ebenso das Fahrradfahren von Querschnittsgelähmten. Schließlich ist einem Team um Thomas Schauer und Rainer Seidl sogar die Unterstützung des Schluckvorgangs mit neuromuskulärer Stimulation gelungen. Also grundsätzlich: Die Machbarkeit von solchen Konzepten konnten wir und auch andere Forschergruppen erfolgreich zeigen. Was und täglich beschäftigt, ist die Frage, wie wir den medizinischen Nutzen und die Intelligenz dieser Systeme weiter verbessern können. Damit meine ich zum Beispiel die Weiterentwicklung der Sensornetzwerke mit dem Ziel, dass die Einzel-Sensoren selbst herausfinden, wie und wo sie angebracht sind: “Ach, ich bin heute gar nicht am Oberschenkel, sondern am Unterschenkel, da habe ich heute einen neuen Job”. Die automatische Anpassung geht aber noch viel weiter; unsere Neuroprothesen können beispielsweise auch merken, wenn ein Patient an einem Tag einmal eine viel deutlichere Spastik hat als sonst und die Muskelaktivierung entsprechend neu dosieren. In der Zukunft sollen sie unter anderem auch genau erkennen, wie aktiv sich der Patient gerade an der Bewegungserzeugung beteiligt und Rückschlüsse auf seine Absichten ziehen.

Aber das bedeutet ja auch, dass sich der Mensch immer mehr zumindest in seinem Bewegungsapparat als Maschine begreifen lässt, den man in einen größeren maschinellen Zusammenhang einbinden kann. Dabei könnte es aber auch zu missbräuchlicher Verwendung kommen. Eigentlich könnte man ja in letzter Konsequenz sogar einen Menschen fernsteuern, nicht wahr?

Das ist immer wieder eine interessante Idee, mit der wir konfrontiert werden. Ich glaube aber, dass das ein sehr unrealistisches Szenario ist. Niemand würde ein Unterstützungssystem mit neuromuskulärer Stimulation entwickeln, das nicht vom Patienten jederzeit ein- oder ausgestellt, beziehungsweise stärker und weniger stark eingestellt werden kann. Eine Vollautomatisierung findet nicht statt. Sie nehmen dem Patienten vielleicht die Mühe ab, jedes Mal, wenn er über die Straße geht, den Stimulator stärker einzustellen, weil der Stimulator merkt, der Patient ist nervös, die Aktivität der “störenden” Muskeln nimmt zu, ich muss jetzt stärkere Impulse geben. Aber Sie würden niemals die Knöpfe zum Ein- und Ausstellen weglassen. Sie würden, ähnlich wie in einem selbstfahrenden Auto, immer noch ein Gaspedal und eine Bremse haben. Es gibt kein noch so autonomes Auto, bei dem das weggelassen wird.

Aber theoretisch denkbar wäre es doch, oder?

In einem phantasievollen futuristischen Szenario könnte man vermutlich einen Menschen nehmen, ihm sehr viele Stimulatoren implantieren und einen Großteil seiner Bewegungen dann tatsächlich fernsteuern. Aber das ist eher etwas für Filmstudios und hat nichts mit unserer Forschung zu tun. Deshalb sage ich ganz klar, verantwortungsvolle Entwicklung in diesem Bereich heißt: Der Patient erhält die volle Kontrolle.

Welche Therapiemöglichkeiten aufgrund Ihrer Technologie wären in zwanzig Jahren denkbar?

Begrenzt werden wir dadurch, dass wir nicht an jeden Muskel herankommen, weil er unter Umständen nicht an der Oberfläche liegt. Und wir können auch nicht jeden Muskel beliebig stark aktivieren. Das bedeutet, dass man bei den allermeisten Patienten den Verfall von Muskeln, selbst wenn man sehr früh einschreitet, nicht so richtig aufhalten kann. Wenn es diese Einschränkungen nicht gäbe, wenn Sie also die Muskelmasse erhalten könnten, die der Patient vor seinem Unfall hatte, und dann auch noch tatsächlich alle Muskeln effizient ansteuern könnten, wäre es theoretisch möglich, einen vollständig gelähmten Patienten gehen oder vielleicht sogar Tango tanzen zu lassen.

Und wie steht es mit spontanen willentlichen Bewegungen wie etwa zeigen und greifen?

Wir streben natürlich auch das Ziel an, alle Bewegung vom Willen auslösen zu lassen. Wenn Sie aber an ganz spontane Bewegungen denken, wie etwa: Jetzt möchte ich zum Stift greifen!, dann müssen Sie ein anderes Signal vom Körper ableiten. Dann können Sie entweder ein so genanntes „Brain Computer Interface“ nutzen, das Signale aus dem Gehirn ableitet. Hier gibt es aber noch keine besonders hohen Erkennungsraten und auch selten mehr als ein Ja/Nein oder ein Links/Rechts. Was aber mit recht gutem Erfolg probiert wurde, ist, dass Sie an anderen Stellen, an denen vom Körper mehr Informationen als nötig abgegeben werden, Signale abgreifen. Sie können zum Beispiel die verschiedenen Anteile der Brustmuskulatur dazu benutzen, um Ihre Hand zu bewegen. Damit geben Sie dem Gehirn die Möglichkeit, eine spontane Bewegung für einen eigentlich gelähmten Körperteil über die Aktivierung eines Muskels vorzugeben, den das Gehirn noch relativ willkürlich ansteuern kann. Auf diesem Wege sind vielleicht sogar Bewegungen in relativ feinen Abstufungen möglich.

Virtuelles Ballspiel: Werden Übungen zum Muskelaufbau spielerisch organisiert, werden sie häufiger ausgeführt und der Behandlungserfolg ist größer.© Michael GromotkaVirtuelles Ballspiel: Werden Übungen zum Muskelaufbau spielerisch organisiert, werden sie häufiger ausgeführt und der Behandlungserfolg ist größer.

Wie fühlt sich die teilweise Fremdsteuerung der Muskeln etwa beim Gehen beim Patienten eigentlich an? Ich weiß nicht, ob das in irgendeiner Form vergleichbar ist, aber Patienten, denen ein fremdes Organ implantiert wird, haben ja oft ein Fremdheitsgefühl. Gibt es bei den Neuroprothesen ebenfalls ein Fremdheitsgefühl, auch wenn wir nur von Elektroden sprechen, die auf die Haut geklebt sind?

Das kann ich Ihnen gar nicht genau sagen. Ich weiß nicht, ob es dazu psychologische Untersuchungen gibt. Ich glaube, die Patienten erleben die Neuroprothesen vor allem als Hilfsmittel. Das System ist auch nicht mit einer Beinprothese vergleichbar, die anstelle eines verlorenen Glieds angesetzt wird. Wir nennen es zwar „Neuroprothese“, weil wir Funktionen des neurologischen Systems ersetzen und übernehmen. Aber wir ersetzen sie ja nicht in dem Sinne, dass wir tatsächlich ihren Körper ergänzen. Was das Leben den Patienten genommen hat und was wir versuchen zu ersetzen, ist ja die Möglichkeit, bestimmte Bewegungen auszuführen.

Ich würde gern noch einmal die Frage der tatsächlichen Umsetzung Ihrer Forschung für den Patienten vertiefen. Wäre es für Sie nicht wünschenswert, ihre Produkte selbst mit bis zur Marktreife zu führen?

Das Beste, was uns passieren könnte, wäre, mit einem Medizin-Produkte-Hersteller, der neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen ist, eines unserer Systeme in einem produktnahen Entwicklungsprojekt zu realisieren. So könnte man die sonst sehr langen Entwicklungszeiten vielleicht verkürzen. In einer idealen Welt würde jede hilfreiche Neuerung sofort als Medizinprodukt verfügbar gemacht werden, aber da sind wir leider noch nicht. Und vergessen Sie nicht, dass auch nach der Entwicklung des marktreifen Prototyps das Produkt noch nicht am Patienten ist. Die nächste, nicht zu unterschätzende Klippe ist nämlich noch die Zulassung des Medizinprodukts und die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis.

Wie vermitteln Sie das Ihren Probanden?

Das ist bitter, wenn der Patient am Ende einer Untersuchung zu uns sagt: Ja, das hat aber wirklich schön funktioniert! Kann ich das mit nach Hause nehmen oder kann ich es kaufen oder wann bekomme ich es von einer Krankenkasse? Dann kommen die traurigen Antworten.

Was empfinden Sie dabei?

Das beschäftigt mich schon sehr. Wir können als Forscher leider nur zeigen, welche neuen Ansätze wie gut funktionieren und was momentan möglich ist. Ebenso ärgert es mich, wenn ein vielversprechender Ansatz bei einem bestimmten Patienten am Ende doch nicht funktioniert. Aber selbst wenn ein bestimmtes System nur einem Bruchteil aller Schlaganfallpatienten helfen könnte, dann wären das immer noch Tausende, denn wir haben ungefähr eine Viertelmillion Schlaganfälle pro Jahr in Deutschland.

Was sind denn noch Nüsse, die für Sie zu knacken sind? Woran sitzen Sie gerade?

Eine ganz konkrete Nuss ist es, durch Stimulation der Muskeln im Unterarm einen präzisen Dreifingergriff auszuführen. Wir können die Muskeln ja nicht einzeln ansteuern. Stattdessen verwenden meine Kollegen Christina Salchow und Markus Valtin eine ganze Matrix von Elektroden. Da müssen wir erst einmal herausfinden, welche Kombination von Kanälen, welche Art „gemischter Ton“ erzeugt werden muss, damit sich tatsächlich die Spitzen von Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger berühren. Das wäre Wahnsinn, das ist momentan noch nicht erreicht, eine so präzise Bewegung zu erzeugen.

Sie halten es aber für möglich, dorthin zu kommen?

Ja. Wir hoffen und wir glauben, dass wir das erreichen werden. Immerhin können wir derzeit schon die Hand öffnen und schließen. Damit können Sie ja wenigstens schon einmal greifen, wenn auch nur grob. Das feine Greifen, der so genannte „Pinzettengriff“, das ist das nächste Ziel.