Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Wer hat Angst vor den Osmanen?

Netflix zeigt eine Geschichtsdokumentation über die Eroberung Konstantinopels mit vielen türkischen Schauspielern. Eine gute Idee – aber wie seriös ist das Ganze?

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Militärisches Genie und umstrittene historische Figur: Mehmed II., gespielt von Cem Yiğit Üzümoğlu

Die ersten türkischen Originale von Netflix, die beiden Fantasy-Serien „The Protector“ und „Atiye: Die Gabe“, zeugten schon von einem gewissen Interesse des amerikanischen Unternehmens für die türkische Geschichte, wenn auch im Kontext von Sci-Fi, Mystery und Superhelden-Action-Drama. Die dritte Netflix-Serie in türkischer Kooperation, das sechsteilige Doku-Drama „Der Aufstieg von Weltreichen: Das Osmanische Reich“, erhebt nun aber den Anspruch einer Wissenssendung – Achtung!

Weltweit gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen über die türkische Geschichte. Bis heute prägt die über Jahrhunderte hinweg popularisierte „Türkengefahr“ das Selbstbild Europas. In der Türkei hingegen wird wieder das alte Sultanat regierungspolitisch idealisiert.  Die verschiedenen Ansichten bestimmen die Begegnung der Kulturen. Aus diesem Grund ist eine Debatte über die unterschiedlichen Geschichtsbilder dringend geboten. Zumal die gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen, politischen, sozialen, moralischen und geistigen Leiden der Menschheit zu innovativer und interkultureller Kooperation drängen. 

Fernsehserien als “neue Kriegswaffen”

Dazu können insbesondere Geschichtsfilme entscheidend beitragen, weil sie, wie sonst kaum ein Medium, unsere Vorstellungen von der Vergangenheit prägen. Allerdings können die entscheidenden Gelegenheiten auch vertan, dichotome Stereotype und hierarchische Denkmodelle wiederholt und sogar machtpolitisch missbraucht werden.

Ebendies wird türkischen Fernsehserien wie beispielsweise „Diriliş – Ertuğrul“ vorgeworfen. Es heißt, die Serien würden die Geschichte des Osmanischen Reichs verherrlichen und von der Regierung für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Zugleich sind osmanische Serien ein Ausfuhr-Schlager der Türkei, dem weltweit zweitgrößten Exporteur von TV-Serien. Türkische Medien berichten von bis zu einer Milliarde Zuschauern in mehr als 100 Ländern. Die jährlichen Einnahmen durch den Export von TV-Serien belaufen sich auf etwa 500 Millionen Dollar.

Auf der anderen Seite hat das saudische Middle East Broadcasting Center 2018 alle türkischen Serien aus dem Programm genommen und zog im November selbst mit einer 40-Millionen-Dollar-Serie über „die Osmanen und ihre blutige Geschichte“ gegen die Türken ins „Kultur-Schlachtfeld“. In Ägypten wurden türkische Serien jüngst sogar religionsrechtlich verboten. Die Diskussion um die „Soft Power“ von TV-Serien spitzt sich also weiter zu, besonders unter den Muslimen. Nabih Bulos, der Nahost-Korrespondent der L. A. Times, spricht von neuen „Kriegswaffen“. In dieses höchst problematische Spannungsfeld mischt sich nun auch Netflix ein.

Von Konstantin XI. zur Hilfe gerufen: Giovanni Giuistniani

Für Deutschland sind türkische Serien ein Novum. Zudem erfährt man in Deutschland kaum etwas über die türkische Geschichte. Deswegen ist die neue Netflix-Serie eigentlich begrüßenswert. Doch welche Perspektive wird bei der neuen Doku-Serie über die Osmanen deutlich? Lässt sich überhaupt eine Perspektive ausmachen?

Der Titel scheint wissenschaftlich-analytisch: Unter dem Oberbegriff „Der Aufstieg von Weltreichen“ wird „Das Osmanische Reich“ einsortiert – geschenkt, dass die neuere Forschung den Reichsbegriff im Bezug auf die Osmanen ablehnt. „Der osmanische Sultan Mehmed II. hat durch seine Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel den Verlauf der Geschichte über Jahrhunderte entscheidend geprägt“, lautet die Zusammenfassung der Serie – der Aspekt der Staatsgeschichte rückt dabei in den Hintergrund. Doch worum geht es nun – um die Biografie von Mehmed II., die Kriegs- oder die moderne Weltgeschichte?

Die Experten moderieren nur

Netflix ordnet die Serie den Genres „Militärdokumentationen“, „Historische Dokumentationen“ und „Dokureihen“ zu. Außerdem wird die Serie den “US-Serien”, nicht aber den türkischen Serien zugeordnet. Demzufolge soll es sich also um eine amerikanische Serie handeln – die Originalsprache ist Englisch. Doch außer „Game of Thrones“-Star Charles Dance als Erzähler und Tommaso Basili als Kaiser Konstantin XI. treten fast nur türkische Schauspieler auf. Emre Şahin, der preisgekrönte, amerikanisch-türkische Film- und Fernseh-Regisseur sowie Mitbegründer von Karga Seven Pictures, jener Produktionsfirma, die mit der kontroversen Dokureihe über die These, dass Hitler nach 1945 in Südamerika weiterlebte, „Hunting Hitler“, in den Vereinigten Staaten einen Riesenerfolg feierte, ist hier Co-Produzent, Co-Autor und Regisseur. Drehbuchautoren sind außerdem die TV-Produzentinnen Liz Lake und Kelly McPherson. Über ihre politische Einstellung ist nichts bekannt. In einem Interview sagte Şahin, dass die Themenwahl im Dialog mit Netflix über einen passenden Stoff für die Türkei entstand. In historischer Hinsicht habe man sich auf die Geschichte der Eroberung Konstantinopels aus der Sicht Mehmeds II. konzentriert.

Die Serie beginnt mit einem Zitat über die Schönheit Konstantinopels von Osman I., dem Begründer des „Osmanischen Reichs“ aus dem Jahr 1280. Dann, auf einem düsteren Schlachtfeld, sieht man, wie der irritierend junge Sultan zig seiner Gegner abschlachtet. Das erinnert stark an Serien wie „Game of Thrones“. Doch vor allem entspricht es dem Feindbild der Renaissance, die Mehmed II. als Schlächter darstellte. Die blutigen Szenen fesseln den Zuschauer, der auf eine Besserung der Geschichte hofft. Traumartige Rückblenden spiegeln die innere Zerrissenheit des Sultans wegen der Eroberung wider. Er erwacht aus seinem wirren Albtraum, sammelt sich und verlässt das Zelt, nachts, im osmanischen Lager vor „Konstantinopel“.

Im Intro heißt es: „Jedes Weltreich gründet auf Blut, Stahl, Schicksal und Unterwerfung.“ Andere Aspekte wie Diplomatie, Recht, Ordnung, Sicherheit, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion werden ausgeklammert. Anschließend kommen einige Fachleute zu Wort. Allerdings erschöpfen sich die Beiträge der vornehmlich englisch-amerikanischen Experten in prägnanten Beschreibungen, in denen die Quellenlage außen vor bleibt. Kaum ein Gegenstand wird vertieft. Die Experten begleiten vielmehr das Drama. Das Reenactment verlässt dabei eindeutig den Bereich des Sachlich-Korrekten und bewegt sich hin zur Fiktion. Dies ist insofern problematisch, als dennoch der Eindruck von einem „So war es“ erzeugt wird. Dabei werden zentrale Figuren und Ereignisse ausgelassen, vertauscht und erfunden.

In ihrer Bedeutung überhöht: die Stiefmutter des Sultans, Mara Branković (Tuba Büyüküstün)

Beispielsweise fehlt der Lehrer von Mehmed II., der berühmte Sufi-Meister Akşemseddin. Der „weiße Meister“ gilt als der eigentliche Spiritus Rector der Eroberung. In der Serie aber gibt statt des islamischen Gelehrten die Stiefmutter des Sultans, Mara Branković, durch ihre astrologische Vorhersage den entscheidenden Anstoß zur Eroberung der Stadt. Das ist ebenso erfunden wie die Figur Ana, die den Sultan zu Gnade und Barmherzigkeit ruft. Musterhaft für den Einsatz von Fiktion in der Serie ist weiterhin die völlig erfundene Szene, in der sich der Sultan und der Genueser Anführer Giustiniani treffen. Selbst wenn es das Treffen gegeben hätte, wüsste keiner, was sie miteinander besprachen.

Ein Anspruch wird verfehlt

Davon abgesehen, dass dadurch vor allem die christlichen Figuren in der Serie aufgewertet werden, wird Mehmed II. zudem noch als zwar asketischer und gebildeter, vor allem aber hinterlistiger und mörderischer Barbar dargestellt. Die Motivation des jungen türkischen Sultans wird ausschließlich auf selbstsüchtige Machtgier reduziert. Dabei verstand er sich als gottgesandter Rächer der Trojaner.

Historische Improvisation: Mehmed II. trifft Giustiniani

Auffällig ist auch, dass die schreckliche Plünderung der Stadt durch die Osmanen in der Serie fehlt. Das scheint sie eher zu schonen. Allerdings wird dadurch ebenso übergangen, dass der Sultan, gemäß der islamischen Rechtstradition, der siegreichen Armee zwar eine dreitägige Plünderung der Stadt zusagte, sie jedoch teilweise einschränkte und am ersten Abend beendete. Laut dem griechischen Historiker Kritobulos, weinte der Sultan um die verwüstete Stadt.

Die Macher haben eindeutig recherchiert. Angesichts der vielen Geschichtsverfälschungen verfehlt die Serie aber den Anspruch einer Geschichtsdokumentation. Die illusionistische Darstellung wird weiterhin durch Spezial-Effekte unterstützt, zum Beispiel leuchtet die Kuppel der Hagia Sophia. Ist es wirklich so gewesen? Fakt und Fiktion verschwimmen, ohne dass sich die Konstruktion der Handlung als solche erkennbar macht. Viel treffender ließe sich das sechsteilige Werk als historischer Mystery-Thriller beschreiben.

Eine vertane Chance – denn historische Inszenierungen sind immer dann ein Gewinn, wenn sie zu eigenen Recherchen anregen. Das setzt jedoch voraus, dass der Zuschauer die Darstellungen nicht einfach glaubt, sondern als Konstruktion erkennt. Im besten Fall macht ein Geschichtsfilm selbst seine beschränkte Perspektive deutlich.

Als Kölner aus türkischem Elternhaus und Student der Komparatistik begrüße ich jeden Anstoß zur intellektuellen Begegnung und Verständigung der Völker und Kulturen. Am besten werden dabei neue Erkenntnisse gewonnen. Ob Mythos oder Wahrheit – die türkische Geschichte bietet viel Stoff für spannende Filme und Serien.