Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Versuch über den Selbstbetrug: Joghurt, Hamburger und Inflation

Worin die Autorin sich befleyssigt, den hochverehrten Leser über die Fehlbarkeit seiner Urtheile zu belehren, so er Viktualien und andere Nothwendigkeiten erwerbet.

Worin die Autorin sich befleyssigt, den hochverehrten Leser über die Fehlbarkeit seiner Urtheile zu belehren, so er Viktualien und andere Nothwendigkeiten erwerbet.

 

Ich liebe Supermärkte. Ich schlendere gerne die Regale entlang, bewundere die Vielfalt der Waren, die unendliche Auswahl für jedes Produkt, stelle mir vor, was ich aus all den Köstlichkeiten kochen könnte. Wenn ich im Ausland unterwegs bin, suche ich immer schleunigst den nächsten großen Supermarkt auf und fühle mich ein bißchen wie Alice im Wunderland ob der Unterschiede. Wie anders die Produkte sind, die Anordnung der Waren, das Aussehen der Gänge! Wieviel man über ein Land und seine Bewohner lernen kann, wenn man nur mit aufmerksamen Augen durch die Konsumtempel der kleinen Alltagsdinge wandert. Flüssig-Ei in Flaschen zum Beispiel sind mir bislang nur in den USA begegnet. Andere Produkte hingegen findet man dort nur mit Mühe, Joghurt mit normalem Fettanteil zum Beispiel. Dafür mußte ich immer mit der U-Bahn zum Wholefoods pilgern – in meinem teilgentrifizierten Stadtteil-Groß-Megamarkt gab es unendliche Vielfalt an zuckerreduzierten oder fettreduzierten oder Sonstwie-reduzierten Joghurts, aber keine normalen. In anderen Ländern wiederum – etwas ferner der Zivilisation, oder dem, was sich so gemeinhin als Zivilisation betrachtet – gibt es zwar durchaus vernünftigen Joghurt, allerdings zum Preis einer Flasche Champagner in Deutschland. Solcherart meiner Frühstücksgrundlage (Joghurt mit Müsli) beraubt, mußte ich auf flüssigen Trinkjoghurt aus lokaler Produktion ausweichen. Der nämlich war gerade noch zähflüssig genug und dabei bezahlbar. Ich kann also zwar über Joghurtpreise in diversen Ländern Auskunft erteilen, muß aber gestehen: ob mein Joghurt in Deutschland 2 Cent teurer geworden ist, könnte ich nicht sagen. Muß ich auch nicht, dafür gibt es ja das Bundesamt für Statistik.

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Die vielen Chefstatistiker der Nation zeichnen natürlich nicht nur für den berüchtigten Verbraucherpreisindex verantwortlich, sie verwalten in ihrem Computern und Speichern auch Milliarden Datensätze zur Konjunktur, zu den Auswirkungen der Wirtschaftspolitik, der Haushalte und Lebensgewohnheiten und auch der Bevölkerung. Ins Blickfeld geraten die Datenhüter jedoch vor allem in der Debatte um die nächste Volkszählung – dies aufgrund ihres enormen Datenhungers – und der Inflationsmessung. Für letztere werden monatlich Preisdaten für ausgewählte Güter in repräsentativen Orten und Regionen gesammelt, und diese wiederum werden basierend auf einer Umfrage bei gleichermaßen repräsentativen Haushalten zu einem deutschen Durchschnittswarenkorb gesammelt und gewichtet – natürlich mit mathematischen Methoden. Besonders interessant ist hier das kleine Wörtchen „repräsentativ”. Die zu befragenden Haushalte werden im Vorfeld in Gruppen eingeteilt, die der Verteilung aller deutschen Haushalte – zum Beispiel nach Einkommensklassen – entsprechen, aber die Teilnahme ist freiwillig. Mit dem Ergebnis, daß sehr einkommensstarke Haushalte von mehr als 18.000 Euro im Monat unterrepräsentiert sind, weil diese Gruppe wenig auskunftsfreudig ist. Auch stellen 11 % der befragten Haushalte fest, daß ihnen die Belastung, drei Monate lang ein Haushaltsbuch zu führen zu aufwendig ist, und beenden ihre Teilnahme vorzeitig. Nach Abzug aller unverwertbaren Observationen und Problemfälle bleiben etwa 50.000 auswertbare Haushalte. Das ist ohne Zweifel eine vernünftige statistische Grundlage, aber wie immer steckt der Teufel im Detail, oder besser: der Methode. Reparaturen an Möbeln, Einrichtungsgegenständen und Bodenbelägen ist vertreten durch eine einzige Kategorie: Abschleifen und Versiegeln von Parkettfußböden. Nun wäre es interessant zu wissen, wieviel Prozent der deutschen Haushalte auf Echtholz residieren, aber bei einem Gewicht von 1,23 Promille kann man die Position vielleicht auch vernachlässigen. Die Position Bekleidungsartikel hingegen mit dem Gewicht von 37,10 Promille enthält ganze 50 Artikel, von der Unterhose bis zum Herrenanzug – mehr Details habe ich nicht gefunden. Ich zumindest kann aber mitteilen, daß ich deutlich öfter Unterwäsche als Anzüge kaufe – ob und wie das berücksichtig ist, bleibt unklar, das macht der schwarze Kasten mit seiner Software.

Eigentlich gehen die Schwierigkeiten aber damit gerade erst los: das Spitzenhöschen von Victoria’s Secret ist ja nicht zu vergleichen mit Feinripp aus dem Discounter, ebensowenig wie schottischer Wildlachs mit industriell gezüchteten Fischstäbchen Pressfleisch. Ganz schlimm wird es für die Statistiker, wenn Produkte aus dem Markt verschwinden oder sich gravierend verändern – man nehme nur Autos oder Computer. Lösungen dafür – natürlich mathematischer Natur – gibt es immerhin noch, kurzfristig gar nicht beobachtbar sind hingegen Substitutionen im Warenkorb – wenn die finanziell eingeschränkte Studentin zum Beispiel statt teurem Joghurt auf billigen Trinkjoghurt ausweicht.

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Angesichts all dieser Schwierigkeiten kann man trotz berechtigter Kritik dem Statistischen Bundesamt doch immerhin bescheinigen, daß es sich bei einer geradezu herkulischen Aufgabe redlich bemüht. Wenn sich die Mehrzahl der Bundesbürger von den Vorgängen der Black Box der Computerberechnung verschaukelt fühlt und eine deutlich höhere Inflation wahrnimmt, so liegt das wenigstens zum Teil daran, daß das Bundesamt eben niemandes individuelle Inflation berechnet, sondern Durchschnitt auf Durchschnitt und Stichprobe auf Stichprobe häuft, um einen Mittelwert über die gesamte Bevölkerung zu finden. Folglich aber naturgemäß keiner einzelnen Gruppe gerecht wird. Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen geben zum Beispiel einen deutlich höheren Anteil ihres Budgets für Grundbedürfnisse aus – Miete, Heizung, Grundnahrungsmittel und – honi soit qui mal y pense – möglicherweise auch Unterhaltungselektronik. Würde man nur die Grundbedarfsgüter in einem individuellen Preisindex ermitteln, läge die Inflation für solche Haushalte deutlich über dem des Verbraucherpreisindex: für 2005-2007 etwa mehr als 6 % statt der offiziellen knapp 4 %.

Überhaupt kann man sich fragen, ob ein Gewicht von knapp 14 % für Lebensmittel, Alkohol und Tabakwaren angemessen ist, zumal unter Berücksichtigung verschiedener Lebensgewohnheiten. Für den geschätzten Kollegen Don Alphonso zum Beispiel müßte eine eigene Kategorie Fahrräder und Antiquitäten eingerichtet werden, und für andere Kollegen aus der Internetwelt wäre Chickendöner unentbehrlich für die korrekte Erfassung. Es ist also tatsächlich nicht leicht für die Statistiker, es allen recht zu machen. Dazu kommt noch die Unberechenbarkeit des Menschen, der leider wirklich nicht dem Idealbild des rationalen Homo Oeconomicus entspricht – auch wenn die Volkswirtchaft von diesem Konzept nicht so recht lassen möchte. Preise werden nämlich nicht rational bewertet, sondern kontextabhängig gefühlt.

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Wer für einen Wochenendetrip nach London fährt, erwartet happige Preise und wäre sicher überrascht und erfreut, dort ein Dinner für unter 20 Euro zu finden. Wer hingegen nach Djerba zum All-inclusive Urlaub reist, würde sich schön bedanken, dort 20 Euro fürs Abendessen bezahlen zu müssen. Die subjektive Wahrnehmung hängt also erstens von der Erwartung ab. Zweitens tun den meisten Menschen Verluste mehr weh als Gewinne. Eine Steuererstattung erfreut uns einen Abend lang – eine Steuernachzahlung in gleicher Höhe kann einem die ganze Woche verderben.

Der größten Selbsttäuschung jedoch geben wir uns hin, wenn seltene deutliche Preisminderungen nicht sauber mit häufig erlebten kleinen Preissteigerungen verrechnet werden. Elektronikgeräte zum Beispiel werden dauernd billiger, aber beim Computerkauf alle vier Jahre passiert das unser Bewußtsein ohne große Reflektion. Die täglich steigenden Nachkommastellen bei Brot, Gemüse und Benzin jedoch setzen sich im Kopf fest, jeder nimmt sie täglich wahr, redet drüber und versteht die Welt und die Statistik nicht mehr. Ein kluger Kopf hat basierend auf der Hypothese des irrationalen Individuums einen „Index der wahrgenommenen Inflation” berechnet, der diese Preissteigerungen angemessen berücksichtigt – aber eben unter völlig anderen Annahmen und Voraussetzungen, die die Zahl für den internationalen Vergleich unbrauchbar machen.

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Korrekterweise sollte man vielleicht den Verbraucherpreisindex nicht als alleinseligmachende Wahrheit betrachten, sondern als statistische Maßzahl ohne Bedeutung für den Einzelnen, dafür aber mit Bedeutung im internationalen Wirtschaftsverkehr. Der wiederum kämpft mit noch viel größeren Problemen, da der hochverarbeitete Kunstjoghurt in den USA kaum noch mit dem deutschen Naturjoghurt vergleichbar ist, und der durchschnittliche Afrikaner ohnehin keinen Joghurt aus industrieller Produktion kaufen kann. In die internationale Vergleichbarkeit schlagen Wechselkurse, Kaufkraftparitäten und unterschiedliche Konsumverhalten eine riesige Bresche, der Statistiker nur mit Mühe beikommen können. Der Economist hat für dieses Problem eine spaßige Lösung gefunden, und zieht seit einigen Jahren den Preis eine Hamburgers bei McDonald’s zum Vergleich heran. Den nämlich gibt es in 140 von etwa 190 Ländern weltweit und zwar in mehr oder minder identischer Zusammensetzung. Theoretisch – bei korrekt bewerteten Währungen – sollte er folglich überall zu jeder Zeit gleichviel kosten – tut er aber natürlich nicht. Fast-Food Junkies in Norwegen zum Beispiel könnten sich mit regelmäßigem Konsum bei Preisen von mehr als 6 USD glatt pleite futtern und sollten den Burgernomics zufolge lieber nach Paraguay oder Malaysia auswandern – dort bekämen sie ihr Leibgericht für unter 2 USD. Und ich, in der Schweiz, kann mir selbst im Supermarkt eigentlich nur Window-Shopping leisten, aber ein Big Mac wäre geradezu ruinös.