Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Das Internet, ein konstruierter Leviathan?

worin auf dygitale Leinwändt hingeworffen wird ein Büldnis dero Monstrosithäten, welche im Netz zu finden seyen, wann man Medien und Politikerei glauben mecht, was zu thun aber mitnichten weise sey.

worin auf dygitale Leinwändt hingeworffen wird ein Büldnis
dero Monstrosithäten, welche im Netz zu finden seyen
wann man Medien und Politikerei glauben mecht,
was zu thun aber mitnichten weise sey.

Nicht nur das Internet, auch seine Darstellung hat gewisse Moden. Zum einen wird das gesamte Netz in der Bereichterstattung auf einige wenige kommerzielle Anbieter reduziert. Facebook und Google sind derzeit einfach mal das Internet. Sie sind die Gallionsfiguren, an denen sich alles Berichtenswerte aus dem Netz festmacht. Klassische Massenmedien benötigen solche memetisch-populären Anker, damit jeder Leser versteht, worüber man spricht.

Zum anderen gibt es das Bild eines Dämons: Mal ist es die unerlässlich saugende Datenkrake, die sich unserer intimsten Geheimnisse bemächtigt. Mal ist das Netz ein Moloch, in dem Pornografie und Gewalt unsere Jugend verderben, und amoklaufende und kinderschändenden Soziopathen züchtet. Oder es ist generell ein rechtsfreier Raum ohne moralischen Kompass, in dem der Terrorismus zügellos wachsen kann. Das Internet ist ein gnadenloser Zeit- und Intelligenzfresser, das uns unsere Konzentrationsfähigkeit raubt, und uns förmlich dazu zwingt, immer “on” zu sein und vereinsamt Kurznachrichten in die Welt zu rotzen. Das Internet als großer Reputationskiller, der unsere Jugendsünden auf ewig abrufbar macht, und uns regelrecht in eine Hartz IV-4 Existenz zwingt. Das Internet gilt als Sammelbecken von Raubkopierern und Scheckkartenbetrügern, Virenbastlern und windigen Dialerabzockern, die nur darauf warten, uns das Geld aus den Taschen zu ziehen. Das Internet ist abgrundtief böse, und bedroht die gesellschaftliche Ordnung und das kulturelle Niveau.  

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Das ist die düstere Seite, die nach meinem Gefühl derzeit verstärkt durch die Medien verbreitet wird. Natürlich sind diese Ängste nicht unbegründet, natürlich ist das Internet nicht nur eine heile Flauschewelt mit Feen und Elfen. Dennoch sollten wir uns sehr wohl fragen, ob die selbsternannte objektive Berichterstattung wirklich frei von Eigeninteressen ist. Das Internet ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wenn das Internet so ist, wie es ist, dann liegt das daran, dass deren Nutzer sich darin so geben, wie sie sind und sein wollen. Das Internet als abstraktes Monster, als Leviathan, den man so völlig von uns Menschen abtrennen kann, existiert nicht, und wäre nachgerade schizophren. Wir alle sind das Internet und entscheiden Tag für Tag, wie es aussehen soll. Nicht die Maschinen lenken uns, wir lenken die Maschinen.  

Aber warum wird dieses negative Bild derzeit so beliebt? Die großen klassischen Medienformate und -marken bestimmen immer noch maßgeblich mit darüber, was das Volk denkt und meint. Umgekehrt entnimmt die breite Masse der Gesellschaft ihr Wissen, ihre Meinung aus den klassischen Medien, ihren Leuchttürmen in der unüberschaubaren komplexen Welt. Genau diese Leuchttürme sehen sich aber in ihrer Existenz bedroht. Vor einigen Jahren war das noch anders: Das Internet wurde als irrelevant und unwichtig belächelt, denn als Gefahr gesehen. Je mehr Menschen sich aber in kleine Grüppchen, in unkontrollierbare Netzwerke und Kleinstkanäle zurückziehen, desto schwerer wird es für das eigene Geschäftsmodell: Die Einnahmen fließen aber nur dann reichlich, wenn ein Medienformat es schafft, möglichst viele Menschen an einem Punkt zu versammeln, um möglichst viele Werbeflächen zu verkaufen.

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Doch die Einnahmen sinken durch die Zersplitterung, aber auch durch die schwindende  Zufriedenheit.  Anstelle von Entwicklungen für Kundenzufriedenheit und Differenzierung schlägt man eine andere Richtung ein, und spart am falschen Ende. Personal wird eingespart, Geschichten werden eingedampft oder von Agenturmeldungen abgeschrieben, die Differenzierung zu anderen Medienformaten verschwindet, und damit auch die Attraktivität für die Kunden. Statt in Breite und Tiefe zu investieren und Werte zu erschaffen, dampft man alles zu einem kleinen gemeinsamen Nenner ein, der auf jeder oder Aggregationsplattform zu bekommen ist: “Zeige alle 725 ähnlichen Artikel zu diesem Thema”. Die im Netz verfügbaren Inhalte bestehen dann oft aus austauschbaren visuell überreizten Klickstrecken (mal hier etwas Sex, mal dort eine Leiche), überzogenen Überschriften und Klatsch und Tratsch der A- und Z-Kategorie, den sogar des Lesers Wellensittich gut verstehen kann. Daran ist nicht das Internet schuld, daran die ist Unternehmenskultur, die Strategieabteilungen, das Management, das Geschäftsmodell schuld, und der feste Glaube, dass einzig und allein Masse das Überleben journalistischer Geschäftmodelle garantieren kann. Ein fataler und unzeitgemäßer Irrtum. 

Das einzige Gegenmodell lautet dann immer gleich: Bezahlinhalte. Aber das Internet ist nicht nur ein abgrundtief böser Ort, sondern mit seiner Gratiskultur auch noch umsonst. Auch das ist eine Fehleinschätzung: Im Jahr 2008 betrug der weltweite Gesamtumsatz in E-Commerce bei 7,4 Billionen Euro. Vielleicht sollte man sich einmal die Mühe machen, ein genaues Augenmerk auf die Attraktivität der eigenen Waren zu legen, den notwendigen Mehrwert zu entdecken – oder überhaupt erst zu erschaffen. 

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Ein weiterer Denkfehler in Bezug auf die „Gratiskultur”  liegt darin, dass diese Kultur bereits vor dem Internet von den Medien und dessen deren Finanziers selbst mit herangezüchtet wurde: Durch das beschriebene Geschäftsmodell der Werbeschaltungen. Die Nutzer wussten auch vorher schon, dass sich alle private Medien hauptsächlich mit Werbeeinnahmen finanzieren. Jemand anderes zahlte für sie die Rechnung, dafür nahm man Unterbrecherwerbung in Kauf. Natürlich bezahlte man für das bedruckte Papier und den Vertrieb drauf, aber durch den Wegfall der Druckkosten fiel auch die Bereitschaft weg, für weiterhin werbefinanzierte Inhalte zusätzlich auch noch Geld zu bezahlen. Gleichzeitig propagierte die Werbewelt in ihren Anzeigen und Advertorials eine Leben voller Geiz, Überfluss und unstillbarem Verlangen. Wir Konsumenten sollen möglichst alles kaufen, aber um es uns überhaupt alles leisten zu können, müssen die Produkte billig sein. Und um alles billig zu machen, müssen wir an Qualität, Würde und Anstand sparen. Wir beuten hinten herum aus, um vorne herum wieder einzusacken. “Geiz ist geil” und “Man gönnt sich ja sonst nichts” waren jahrzehntelang – auch teils vor dem Internet – die Leitmeme unserer Gesellschaft, maßgeblich geprägt durch die Werbeindustrie und Unternehmenskultur der großen Markenkonzerne. An dieser Stelle geht meine Hochachtung übrigens an Amir Kassaei, der als einer der obersten Vertreter der Werbeindustrie genau diese Misere öffentlich in einem Interview der Süddeutschen anprangert, obwohl er selbst jahrelang bei diesem Spiel mitgewirkt hat.

Neben den Medien poltern auch die politischen Systeme gegen das Internet, die durch die fortschreitende radikale Transparenz und Verbreitung von Informationen nicht mehr in der Lage sind ihre konventionelle Machtpolitik auszuüben. Wissen ist Macht, aber eben auch nur dann, wenn es auf der anderen Seite ein entsprechendes Unwissen gibt. Erst durch diese Asymmetrie der Informationen kann ein Machtgefälle richtig funktionieren. WikiLeaks ist derzeit eine enorme Bedrohung im Kontext von Machterhalt und Machtausübung. Vor dem Internet wäre das Durchsickern von Informationen zwar möglich gewesen, aber sicherlich wären diese Informationen niemals dauerhaft öffentlich so einfach zugänglich gewesen. Kein Wunder also, dass immer wieder im Zusammenhang mit WikiLeaks entsprechende Diskreditierungsversuche auftauchen. Doch nicht nur diese Form der radikalen Transparenz ist so bedrohlich, hinzu kommt noch parallel die enormen interaktiven Möglichkeiten des gemeinen Volkes. Plötzlich formiert sich der Unmut, möglicher Protest wird in Windeseile visualisiert und von Teheran bis Stuttgart vor Ort organisiert. Demos werden koordiniert, Aktionen geplant und erfolgreich umgesetzt.

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Mangelnde Visions- und Utopieschübe der sogenannten Netzkultur sind dagegen nicht hilfreich, um dem Bild des Leviathans entgegenzuwirken. Viele selbsternannte “Digital Natives” und “Social Media Experten” sind viel zu sehr damit “geschäftigt”, sich über ihre neusten Apps, Gadgets, Strategien, Statistiken, Monitoringergebnisse und Monetarisierungspotenziale auszutauschen, statt der Dämonisierung mit Gegenargumenten die Stirn zu bieten. Sie verpassen es gerade, den Menschen erklären, was das Internet uns an positiven Potenzial – über blanke Profite hinaus – liefern kann. Stattdessen spotten sie zusätzlich über die teilweise sehr berechtigten Ängste von nicht netzaffinen Menschen, und spielen somit den Interessen der bedrohten Systeme zu. Es mangelt ihnen an bewegenden Geschichten und Zukunftsvisionen, die allen vor Augen halten, was mit dem Internet möglich ist. In der Streetview-Debatte ist das Argument des Mehrwerts für einen Maklers natürlich mehr als schwach. Es geht darum zu überlegen, wie wir gemeinsam die bestehenden Systeme so gestalten, dass sie transparenter, demokratischer und qualitativ hochwertiger werden, und einen Wert für alle liefern. Es geht darum, die Lebensqualität zu verbessern, und zu verstehen, dass sie erst ansteigen kann, wenn wir auch die Lebensqualität anderer Menschen verbessern. Das Internet und all die Chancen, die damit zusammenhängen, der interkulturelle Austausch, die Wissensvernetzung, die Informationstransparenz, der freien Handel der demokratische Grundgedanke, den so viele Staatsführer schnell auf den Lippen haben, das alles wird derzeit massiv duech Angst und Kontrollmaßnahmen bedroht. Das muss aufhören. Und zwar jetzt. 

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Patrick Breitenbach gründete 2003 “Werbeblogger.de“, das schnell
zum führenden und mitunter auch gefürchteten Fachblog
der Weisspulverbranche wurde.  Heute ist er
Head of Communication & Content
an der Karlshochschule
in Karlsruhe.