Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Die Web-Welt ist Maß und Zahl

War der Zahlenfetisch nur eine Domäne der alten Massenmedienwelt? Mitnichten - im Internet und Mitmach-Web kommen die Zahlenfreunde und Statistik-Enthusiasten erst so richtig auf ihre Kosten.

Wo wir dieser Tage bei der Kollegin Sophia Amalie so schön über Zahlen plauderten, bleibe ich doch noch ein bisschen beim Thema: Wenn Ihnen ein Medienschaffender oder jemand, der was mit Internet macht, erzählen will, Zahlen interessierten ihn (oder sie) ja so gar nicht, gehen Sie dieser Aussage bitte nicht vorschnell auf den Leim. Sicher, es gibt Fernsehmacher, denen die Einschaltquote nicht über alles geht. Auch Radioleute, die froh sind, Sendungen für ein kleines Nischenpublikum machen zu können, wird man finden können. So wie auch Schreiber, die sich über Auflagen ihrer Blätter oder Abrufzahlen ihrer Geschichten im Netz keinen sonderlich großen Kopf machen. Aber bleiben wir realistisch: Die meisten Kollegen interessieren sich insgeheim doch für die Größenordnung des Publikums, das sie erreichen. Es ist nur – wenn man nicht gerade bei RTL, Pro Sieben oder einer Boulevardzeitung arbeitet – nicht sonderlich schicklich, das auch offen auszusprechen.

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Gerne tun wir Medienarbeiter so, als sei der Sachzwang der Zahlen nur den Notwendigkeiten des Werbeverkaufs geschuldet. Käufer von Anzeigenraum oder Werbezeit in Funk und Fernsehen wollen schließlich den “biggest bang for the buck”, wie es im Marketing-Slang der Madison Avenue so schön heißt, also müssen aussagekräftige Zahlen her. Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit. Und deren andere Hälfte ist, dass nur die wenigsten von uns völlig frei sind von dem Denkmuster, dass ein Mindestmaß an Relevanz eben auch nicht ohne eine gewisse Reichweite zu haben ist. Vor völlig leeren Kirchenbänken predigt auch kein Pfarrer gern, selbst bei vollem Gotteslohnausgleich. Und der irdische Lohn für die Mühen? Der wird zunehmend auch immateriell abgegolten: Die vielfältigen Ablenkungen und Zerstreuungsangebote der Mediengesellschaft machen die Aufmerksamkeit zum immer knapperen (und damit begehrteren) Gut. Für diesen Umstand und seine Folgen hat der Architekt und Stadtplaner Georg Franck das griffige Schlagwort von der „Aufmerksamkeitsökonomie” geprägt. In ihr gelte nicht mehr der monetäre Reichtum als höchstes zu erstrebendes Gut. Als neue Leitwährung sieht Franck vielmehr die Aufmerksamkeit anderer, der „Wunsch, geachtet und anerkannt, geschätzt und bewundert zu werden”.

Das erklärt einiges – etwa, warum sich so viele Zeitgenossen zur Teilnahme an Castingshows drängeln, in Facebook und anderen Netzwerken auf Freundessuche gehen oder ungefragt und unentgeltlich ihre Weltbetrachtungen in Form von Blogbeiträgen oder Twitter-Kurznachrichten ins weltweite Web absondern. Es würde überdies erklären, warum zum Beispiel die Einschaltquoten und Marktanteile des gestrigen Fernsehabends – mithin aufmerksamkeitsökonomische Kennzahlen par excellence – anscheinend mehr Leute interessieren als die Kursverläufe und Indexentwicklungen an den wichtigsten Finanzplätzen. Selbst der Blogger-Kollege Netzökonom rechnet nicht in Dollars, Euro oder Yen, sondern in Marktforschungszahlen, wenn er vermeldet, dass Facebook in der Nutzergunst im Vergleich zu Google enorm aufholt. Das Fachportal Meedia.de leistet sich sogar eigens einen „Mr. Analyzer” in Person von Jens Schröder, der für die journalistische Aufbereitung von TV-Einschaltquoten, Heftauflagen, Radio-Reichweiten und Internet-Nutzungszahlen zuständig ist.

Wer aber nun glaubt, im Web 2.0, in Blogs und sozialen Netzwerken würde den Zahlengöttern weniger gehuldigt als in der Welt der Massenmedien oder gar nicht, liegt völlig falsch: Kaum ein privater Katzenbild-Blogger, der nicht ein Besucherzählprogramm auf seiner Seite installiert hat und auch regelmäßig die sogenannten „Referrers” checkt – also über welche Verlinkungen und Suchmaschinen-Abfragen die Besucher auf seinem Blog gelandet sind. Da werden Seitenabrufe (Pageviews) und Besucher als „Unique Visitors” genauso akribisch nach IVW-Richtlinien gezählt wie auf FAZ.NET oder T-Online. Der Besucherzähldienst Blogcounter bewirbt sein Top-100-Reichweiten-Ranking denn auch recht unverblümt als “Schwanzvergleich”. Der funktioniert beim Kurznachrichtendienst Twitter noch viel einfacher: Wieviele Follower man da hat und wessen Tweets man selber followt, steht offen in den Profilinformationen zu lesen. Aber nein, natürlich spielt wenn man Twitteure und Twitteusen fragt die Zahl der Follower als solche natürlich gaar keine Rolle – genauso wenig wie die Zahl der Facebook-Freunde oder Xing-Kontakte. Jaja, schon klar. Machen wir uns nichts vor: Das Bedürfnis des Einzelnen nach Quantifizierung seines elektronischen Ego-Marktwerts und der Aufmerksamkeits-Äquivalenzwerte ist groß. Und begeisterte Zahlenspieler und Tabellenbastler wie der besagte Jens Schröder geben dem Affen gerne Zucker: Nach Feierabend stellt der Meedia-Zahlenexperte nämlich regelmäßig die Deutschen Blogcharts zusammen. Die Daten muss er selber nicht erheben, seine Ranglisten basieren auf Verlinkungswerten der Spezialsuchmaschine Icerocket, die Schröder nachbearbeitet und gewichtet.

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Uns steht also im sogenannten Mitmach-Web von Seitenabrufen und Visits über Verlinkungszahlen bis zu Twitter-Followern und Facebook-Freunden ein breit sortiertes Zahlenangebot zur Verfügung. Und doch bleibt die Frage, ob es das schon gewesen sein soll. Benedikt Köhler, Director Digital Strategy and Research bei Ethority in Hamburg und gefragter Social-Media-Experte, glaubt, dass viele der Kennzahlen aus der alten Welt der Massenmedien nicht mehr das Maß der Dinge sind, um das individualisierte und vernetztere Nutzerverhalten im Web 2.0 adäquat abzubilden. Bei der Messgröße „Seitenabruf” beispielsweise lässt sich exemplarisch ein Problem aufzeigen, das immer dann auftritt, wenn eine Messgröße zur Zielgröße wird: Viele Seitenabrufe sind gut, wenn man Werbebanner möglichst teuer verkaufen will. Wenn Redaktionen aber immer mehr klickträchtige Bilderstrecken zusammentackern oder Sudokuspiele so programmieren, dass jeder Klick auf ein Zahlenkästchen einen neuen Seitenabruf erzeugt, geht die Aussagekraft der Abrufzahlen über die Attraktivität des Angebots natürlich irgendwann Richtung Null.

Seit einiger Zeit tüftelt Köhler deswegen in der von ihm 2008 mitgegründeten Arbeitsgemeinschaft Social Media an einem neuen Open-Source-Zählsystem, das für Blogs, Foren und Communities valide Reichweitendaten liefern soll. Aber der Etat ist nicht üppig, zählbare Resultate lassen auf sich warten, und die Web-Welt dreht sich auch ohne die versprochene „erweiterte Reichweite” weiter. In den USA macht derweil ein Online-Bewertungsdienst namens Klout Furore als das potenziell nächste große Ding. Klout verspricht, den „Einfluss” von Personen im Netz messen zu können. Dieser Einflussfaktor errechnet sich mit Hilfe komplizierter Algorithmen aus Tweets, Likes, LinkedIn- und Facebook-Vernetzung, Google-Erwähnungen, Statusmeldungen und anderen Lebenszeichen im Netz. Neben dem Klout-Zahlenwert zwischen 0 und 100 erfährt man dann auch, ob man eher dem Typus „Explorer”, „Thought Leader” oder „Specialist” zuzurechnen ist. Den höchsten Klout-Index von 100 erzielt übrigens das Teenie-Idol Justin Bieber vor US-Präsident Barack Obama mit 88, der somit auch dem Dalai Lama (89) und Lady Gaga (90) hinterher schauen muss. Kritik an den Kalkulationen von Klout kann da nicht ausbleiben. „Esoterik” oder „Mumpitz” gehören noch zu den freundlicheren Attributen, mit denen der Bewertungsdienst bedacht wird. Auch stoßen sich viele daran, dass Klout die Methodik seiner Berechnungen nicht offen legt.

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Aber wie auch immer man zu den Ergebnissen dieses ersten Einfluss-Messversuchs stehen mag, eines dürfte klar sein: Die Vermessung der digitalen Welt hat gerade erst begonnen.