Deus ex Machina

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Der Preis der Sicherheit

Wir können uns gegen fast alles versichern, gegen Brillenbruch, Reiserücktritt und auf Wunsch sogar gegen die Entführung durch Aliens. Wohin aber führt uns dieser Wahn nach Sicherheit?

Wir können uns gegen fast alles versichern, gegen Brillenbruch, Reiserücktritt und auf Wunsch sogar gegen die Entführung durch Aliens. Wohin aber führt uns dieser Wahn nach Sicherheit?

Würde ich heute eine Umfrage im Bekanntenkreis veranstalten, und mich nach deren Versicherungen – ganz allgemein – erkundigen, die Antworten fielen vermutlich alle ähnlich aus. Die Krankenkasse zahlt nicht die Hepatitis-Impfung für den Tauchurlaub in Indonesien. Die KFZ-Versicherung hat nach einem Unfall hochgestuft. Die BU, die der junge Berufseinsteiger gerne gehabt hätte, hat ihn abgelehnt, wegen Sportverletzungen. Das klingt alles nicht gut, ud sicher gibt es manches, was man im Versicherungsgewerbe beklagen könnte.

Andererseits sind die Klagen aber auch ein gutes Zeichen. Eigentlich nämlich zeigt uns das erstens, daß die meisten Menschen in Deutschland die wesentlichen Risiken ihres Lebens vernünftig abgesichert haben. Und zweitens sogar in einem solchen Ausmaß, daß wir es uns leisten können, über den Dienstleister zu schimpfen. Eigentlich, so gesehen, ziemliche Luxusprobleme.

Versicherungen werden in westlichen Industriestaaten häufig für selbstverständlich genommen, dabei sind sie wirklich eine Errungenschaft der letzten hundert Jahre. Und was für eine Errungenschaft! Wie so oft tritt der Effekt in anderen Ländern viel klarer zutage, wo heute noch Umstände wie in Deutschland vor hundert Jahren herrschen. In den armen Ländern der Welt sieht man, wie relativ gewöhnliche Krankheiten trotzdem zu Behandlungskosten führen, die für eine durchschnittliche Familie kaum zu tragen sind – oder sie zumindest über Monate verschulden. Die Bedeutung von Versicherungen spiegelt sich auch darin, daß Mikroversicherungen (nach Mikrokrediten) zu den Modethemen der letzten Jahre gehören.

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Mit so einem Beispiel kann man auch den Ignoranten zu Hause erklären, welch bahnbrechende Bedeutung der Krankenversicherung zukommt: die monatlichen Beiträge an die Kasse dienen schließlich nicht dazu, den gelegentlichen Handshake beim Hausarzt, die Grippeimpfung oder das Hustenmedikament zu finanzieren. Versicherungen dienen vielmehr dazu, jene Risiken abzusichern, die weniger wahrscheinlich sind, aber dafür die finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen bei weitem übersteigen. Nicht die Grippe also, vielleicht noch nicht einmal die simple Bänderzerrung, sondern den Beinbruch, mit Operations-, Behandlungs- und Rehabilitationskosten in fünfstelliger Höhe oder Multimorbidität im Alter sind der Grund, warum man eine Versicherung braucht.

In Afrika hingegen sind häufig schon die 17 USD für einen Malariatest und weitere 17 Dollar für eine Packung Lariam mehr,als die Familie monatlich an Miete für eine Wellblechhütte ausgibt. Jede kleine – und erst recht jede große – Katastrophe erhält einen völlig anderen Stellenwert, wenn man ohnehin kaum oder keine Rücklagen hat. Insofern können vermutlich die wenigsten von uns ermessen, um wieviel besser es sich mit einer Krankenversicherung schläft – haben wir es doch nie anders gekannt.

Während vielen Menschen selbst der Zugang zu existentiellen Grundversicherungen verwehrt bleibt (sei es, weil es kaum Anbieter gibt, oder kaum Nachfrage mangels freier Finanzmittel), gibt es bei uns inzwischen Versicherungen für fast jedes Risiko.

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Pianisten und Geiger lassen ihre Hände versichern, Models ihre Beine und Hintern, Sportler andere bedeutende Gliedmaßen. Alles wichtige Einkommensquellen, das kann man noch irgendwie verstehen. Das Internet weiß auch von den endlos langen Haaren eines Sportlers und Werbeträgers für eine Shampoo-Marke – auch das macht der Markt irgendwie möglich. Solche Versicherungen erhält man natürlich nicht mehr beim Versicherungsmakler seines Vertrauens um die Ecke. Dafür gibt es Spezialmakler. Individuelle Konditionen werden auf Fallbasis von Profis errechnet, die dann losziehen und einen geeigneten Versicherer auftreibt, der die Police übernimmt.

Gänzlich absurd wird das Gewerbe bei Versicherungen gegen die Entführung durch Aliens – möglich in den USA für günstige 12 Euro (oder Dollar?) im Monat, allerdings beträgt die Schadensumme auch nur 5000. Minimal realistisch (für die meisten vernünftig denkenden Menschen zumindest), aber immer noch sehr unwahrscheinlich, daß in Deutschland die Prohibition eingeführt wurde, aber auch das läßt sich versichern. Und die Versicherung über „vorm Altar bei der Heirat stehengelassen werden” ist wohl auch eher unromantisch – keine Ahnung, wer da die Kundschaft stellt.

Realitätsnäher und sehr viel bedrohlicher das Szenario, im Ausland auf Geschäftsreise entführt zu werden, und so sichern sich gerade mittelständische Firmen mit intensiver Auslandstätigkeit in riskanten Ländern gerne gegen Entführungsrisiken ab. Neben dem potentiellen Lösegeld sind auch Verhandlungsführung und Beratung gleich mit dabei, wie man aus Hollywood-Filmen weiß. Seit einigen Jahren sind diese Versicherungen auch in Deutschland zugelassen, aber die Branche ist klein – und diskret. Geradezu banal nimmt sich daneben die D&O-Versicherung für Manager aus, die Geschäftsführer für den Fall finanziell folgenschwerer Fehlentscheidungen abschließen. Oder dachten Sie, die haften für berufliche Fehler mit ihrem Privatvermögen? Genausowenig wie Ärzte oder Anwälte, versteht sich.

Kurz gesagt: wir versichern Häuser und Hausrat, besondere Wertgegenstände, Autos und deren Schäden, Haustiere und deren Schäden, Krankheitsfälle, Einkommensausfälle, und Folgeschäden – unser ganzes existentielles Wohlergehen ist maximal abgesichert. Oder es läßt sich zumindest so einrichten. Manch einer dürfte dabei aus kaufmännischer Sicht hoffnungslos überversichert sein, Brillen, Zahnarztbesuche, Hausrat – schnell summieren sich da die Beiträge auf potentiell mehr, als man an Schaden wahrscheinlich erleiden wird. Aber gleichwohl, wir versichern uns gegen jedes noch so blöde Risiko. Brillenbruch. Oder Reiserücktritt.

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Im Urlaub wollen wir dann natürlich was erleben. Ostsee und Strandkorb sind heute allenfalls bei finanziellen Einschränkungen eine Option – lieber weit weg, Safari in Afrika, Tauchen auf Bali, Paragliden oder Tourenski in den Alpen. Dabei kann natürlich auch mal eine Brille zu Bruch gehen. Dann allerdings wird man feststellen, daß Extremsportarten und Ausland in der Brillenversicherung nicht abgedeckt sind – aber das kommt in Kleingedurckten irgendwo in der Mitte, wo eh keiner liest.

Ein Schelm, wer zwischen dem Hang zur immer mehr Versicherungen und dem Druck, die Langeweile des Alltags wenigstens im Urlaub im großen Stil zu kompensieren, einen Zusammenhang vermutet. Es gibt Hypothesen, die den rasanten Aufschwung riskanter Sportarten (Paragliding! Basejumping! Auf Sprungfedern rumhüpfen! Höher-schneller-weiter!) darin sehen, daß dem modernen Menschen das Risiko fehlt. Für die meisten Bundesbürger sind die Risiken, die einem nachts den Schlaf rauben, keineswegs mehr existentieller Art. Nicht, daß die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Verschlechterung bei weiten Teile der Mittelschicht kein Stress wäre, aber die existentiellen Ängste, die meine Großeltern nach dem Krieg noch auszustehen hatten, von vorangehenden Generationen ganz zu schweigen, haben doch eine andere Qualität.

Wer in der total abgesicherten Gesellschaft zu keiner Gelegenheit ernsthafte Existenzängste haben muß, sucht sich den Kick vielleicht tatsächlich anderswo. Möglicherweise aber würde es uns ganz gut tun, ein paar Risiken weniger versichert zu haben und dafür ein bißchen mehr zu Leben.