Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Der Überwachungsgott ist tot

Kein Respekt vor der Polizei, dem Staat und den Überwachungskameras: Bei den Unruhen in London hat sich gezeigt, wie wenig die höchste Dichte von Kameras wert ist, wenn die öffentliche Ordnung zusammenbricht. Plünderer glauben offensichtlich nicht an die Wirksamkeit der technischen Wunderwaffen.

Im Übrigen sind alle Engländer, zumindest bis Calais, gut erzogen.
Coco Chanel

Es begann im letzten Winter. Es war kalt, es kamen in der Nacht nicht mehr einzelne Personen in die Schalterhalle der Sparkasse, sondern ganze Gruppen, alkoholisiert, aggressiv, chronisch pleite, auf der Suche nach der letzten Karte, die noch etwas ausspuckte. Dann hämmerten sie auf die Automaten ein, und wenn nichts mehr kam, blieben sie dort, tranken mitgebrachten Alkohol und wirkten auf andere Besucher nicht eben vertrauensbildend. Die Sparkasse reagierte, indem sie die Öffnungszeiten der Schalterhalle um Mitternacht schloss. Und dann, eines schönen Abends im Spätwinter, waren auch Wachmänner in den Schalterhallen. Guten Abend, grüsste ich, weil es schon sehr spät war, kann ich noch schnell ein paar Überweisungen am Automaten machen?

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Ich konnte. Und wie es nun mal so ist in Bayern, kamen wir etwas ins Ratschen. Er sei jetzt immer am Wochenende da, erzählte der Wachmann, weil so viel passiert sei. Dreck. Fäkalien. Erbrochenes. Vandalismus. Belästigungen. Ausserdem hielten sich die Leute nicht an die Öffnungszeiten, es habe Fälle gegeben, da wurde einfach die Tür aufgewuchtet oder eingeschlagen, um an Geld zu gelangen. Ob die Täter denn gar keine Angst hätten, erwischt zu werden, fragte ich, schliesslich habe man ihre Konten, und die Videokameras würden alles aufzeichnen. Der Wachmann zuckte mit den Schultern. Die machen das einfach. Auch vor seinen Augen. Er melde das der Sparkasse, und was die dann mache, wisse er nicht. Aber wenn die erst mal betrunken sind, achten die gar nicht mehr auf Videokameras. Also ist da jetzt ein privater Wachmann und passt auf, Nacht für Nacht.

In den Schalterhallen sind genug Überwachungskameras, um jeden Winkel abzufilmen. Wer sich der Sparkasse nähert, muss rechnen, bei jeder Bewegung deutlich erkennbar zu sein. Wer auf der anderen Seite sitzt, was dort geschieht, was mit den Bildern gemacht wird, das alles weiss man nicht, der Besucher muss die Überwachung über sich ergehen lassen, und auf der anderen Seite wird entschieden. Aufgezeichnet. Ausgewertet. Herangezoomt. Die Polizei informiert. Man ist unter Beobachtung: Wir wissen, was du tust, du weisst nichts von uns, du bist uns ausgeliefert, wir haben alle informationen, wir sehen alles, du siehst nur die Kästen – das ist Hierarchie, Herrschaft, das psychologische Konzept der Überwachung. Man muss befürchten, dass nichts, was man tut, von einer Instanz unentdeckt bleibt, die fern ist, unsichtbar und unangreifbar, sich aber jederzeit einschalten kann. Das funktioniert wohl recht gut, wenn ein braver Bürger allein in der Schalterhalle ist und seine Überweisung tätigt. Aber bei aufgestachelten Gruppen versagt dieses System. In Bayern wie auch jetzt in London.

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London gilt als der Ort mit der höchsten Dichte von Überwachungskameras der westlichen Welt. Man muss diese Kameras nicht registrieren, ihre genau Zahl ist nicht bekannt, aber Schätzungen gehen von mehr als einer halben Million aus. Banken, Ladenbesitzer, Privatpersonen, Behörden und Polizei setzten seit Mitte der 80er Jahre auf einen Ausbau der Videoaufzeichnung, und seit 2009 gibt es den Stream solcher Kameras in besonders schlechten Ecken der Stadt sogar als Internet-Bezahlfernsehen. Was Chips and Fish für die englische Küche ist, ist CCTV (Closed Circuit TeleVision) für das englische Sicherheitsempfinden: Allgegenwärtig, immer verfügbar, der Standard für den kleinen Mann, der sich Besseres nicht leisten kann. Ein Teil der Populärkultur. Jeder weiss vermutlich, dass er täglich in London mehrere Dutzend mal gefilmt wird, in Geschäften, U-Bahnen und Strassen. Die meisten Plünderungen der letzten Tage dürften irgendwo als Bänder oder Dateien gespeichert sein, und dort sieht man, dass der Mob im Tageslicht in einer beliebten Einkaufsstrasse seelenruhig vor laufender Kamera das tut, was er eben so macht.

Man muss sich diese qualvollen 5 Minuten 23 Sekunden ganz anschauen,um zu verstehen: Der Maschinengott der Sicherheit ist hier ganz offensichtlich tot. Gehuldigt wird ihm allenfalls noch durch das Tragen einer Kapuze, aber niemand lässt sich davon abhalten, den Laden zu plündern, zuzuschauen, herumzustehen und das Spektaktel zu geniessen. Die schiere Menge der Straftaten und Vergehen und ihre Ausführung führt vor Augen, wie sicher und ungestört sich die Menge im überwachten Raum fühlt. Die Täter stellen ihre Räder ab, drängeln sich um die Beute, tragen sie davon, ziehen weiter, es gibt noch viel zu holen: Die öffentliche Ordnung ist zusammengebrochen, und auch die vielen Videokameras, die virtuelle Anwesenheit der Überwachung, das alles hat daran nichts geändert. Die Aufnahmen zeigen nicht nur die Plünderungen, sie zeigen auch: Es geht. Es folgt keine Strafe. Sollte hinter der Kamera ein Überwacher sein, so ist er machtlos.

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Nachgerade rührend ist dagegen der Versuch der völlig überforderten Ordnungshüter, im Nachhinein den Glauben an die Überwachung wiederherzustellen. Gerne betont die Polizei bei Festnahmen und Gerichtsterminen, sie habe Beweise durch CCTV, man sehe diesen und jenen Täter auf Bildern der Überwachungskameras. Inwieweit solche Bilder tatsächlich helfen, einen Täter zweifelsfrei einer kriminellen Handlung zu überführen, ist eine andere Frage. In Ermangelung von Zeugen sind die Aufzeichnungen lediglich das, was den Ermittlern übrig bleibt. Die angekündigte und bereits angelaufene Veröffentlichung der Bilder mutmasslicher Täter im Internet, angeheizt durch das Vorpreschen gewisser fragwürdiger Medien und von Privatpersonen, soll nun helfen, die Täter zu identifizieren. Man hat sie zumindest als mehr oder weniger scharfes Bild auf den Kameras. Die Kameras waren nicht ganz sinnlos. Vielleicht beruhigt das die empörte Öffentlichkeit, die vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung nicht angetan ist. Vielleicht glaubt sie dann wieder, dass der Gott der Überwachung für späte Gerechtigkeit sorgt. Ob die anderen den Gott hinter den Linsen dann auch wieder mehr fürchten, ist eine andere Frage. Ob diese Furcht stärker als der Wunsch nach Zigaretten, Alkohol, TV-Geräten und Randale ist, wird über das Wohlbefinden einer Nation entscheiden, die nicht Nacht für Nacht 16.000 Polizisten auf Londons Strassen haben kann: “We have extensive CCTV of all the activity that has gone on tonight. We have made it absolutely clear that as early as tomorrow morning we will be coming to make arrests.”

Solange werden Zweifel am Maschinengott der Beobachtung des öffentlichen Raumes bleiben, obwohl die Überwachung als Datenspeicherungsvorgang anstandslos funktioniert hat, und aktuelle Kameras auch mit neuesten Ertungenschaften wie Gesichts- und Bewegungserkennung ausgerüstet sind. Jede Datenmassnahme ist, wenn es hart auf hart kommt, nur so gut wie die folgende Auswertung und Reaktion. Wird das Versprechen und die Drohung der Datenspeicherung und Überwachung nicht eingelöst, hat die Restriktion der Anonymität im öffentlichen Raum keine Restriktion bei Verfehlungen zur Folge, ist CCTV nur ein Kasten mit Kabel und einem Kasten dahinter, der irgendwo steht, und keinen Einfluss nimmt, wenn man ein paar hundet Gesinnungsgenossen Eigentumsverhältnisse anpasst. Kein Gott. Ein wertloser Götze, dessen Anbetung die Aufsteller nicht gegen den Baseballschläger und den Steinwurf schützt.

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Natürlich ist es eine feine Vorstellung, diese Leute mit einer Kamera und Sensoren unter Druck zu setzen, ihnen die Freiräume zu nehmen, sie dauernd zu beschatten und somit Herr der Lage zu sein. Videoüberwachung ist eine saubere Art der Herrschaftsausübung, sie ist allgegenwärtig, kostengünstig und durch Mauern vom Beobachtungsgegenstand getrennt. Sie ist der Virtualität unseres Zeitalters mit seinen Drohneneinsätzen, computergesicherten Börsenbewegungen und Hackerkriegen angemessen. Sie vermittelt ein Gefühl der technischen Überlegenheit, solange es keiner auf die Probe stellt. Sie verschafft dem Besitzer das beruhigende Gefühl, mit weniger Mitteln mehr Kontrollleistung zu bekommen, die sozialen Veränderungen besser zu beherrschen, und vermutlich ist es auch kein Zufall, dass die Menge der CCTVs ansteigt, je weiter die sozialen Schichten auseinander treiben. Irgendwann, wie in London, ist dann alles überwacht, rund um die Uhr. Die einen haben die Kameras und alles unter Kontrolle.

Und den anderen ist alles egal.