Deus ex Machina

Deus ex Machina

Über Gott und die WWWelt

Die Meta-Maschinerie

Kann man sich die Technik in ihrer Gesamtheit als eine Art Über-Lebewesen vorstellen? Das würde zumindest einem besseren Verständnis künftiger technischer Weiterentwicklungen dienen.

Zugegeben, die Versuchung war groß, an dieser Stelle nochmal detailliert aufzudröseln, wie Facebook mit seinem neuen Timeline-Konzept die Nutzer dazu bringen will, die Hosen noch weiter herunterzulassen, mehr oder weniger ihr ganzes Leben mit allen Sozialbeziehungen und einer möglichst kompletten Konsumhistorie auf der Plattform auszubreiten. Aber nachdem sich hier auf FAZ.NET nun schon mehrere Kollegen daran abgearbeitet haben, scheint es mir lohnender, einen Schritt hinter die Tagesaktualität zurückzutreten und zu versuchen, solche Einzelentwicklungen in einen größeren Kontext einzubetten. Also nicht zu fragen, was will Facebook, sondern zu verstehen, was will die Digitalisierung von uns?

Bild zu: Die Meta-Maschinerie

Da trifft es sich gut, dass ich mir in Vorbereitung einer Geschichte für ein anderes Medium gerade das Buch „What Technology wants” von Kevin Kelly gekauft habe. Kelly war Mitgründer der Geekpostille „Wired”, und mit dem Etikett „Web-Evangelist” täte man dem vielseitig interessierten Technik-Philosophen Unrecht. Seine Bücher haben auch düstere filmische Visionen wie „Minority Report” und „Matrix” beeinflusst. Um das eigentliche Wesen der Technik klarer zu benennen, führt Kelly den Begriff „Technium” ein. Dieses Technium umfasst nicht nur die Gesamtheit aller Technik, sondern auch nahezu alles, was wir mit unserem Geist geschaffen haben, sozusagen die Meta-Technik oder deren systemische Quintessenz.

Das Wesenhafte der Technik zeigt sich für Kelly schon darin, dass nahezu jede neue Erfindung auf vorigen Erfindungen aufbaut und zum Teil auch weitere Anpassungen und Fortentwicklungen erzeugt. So brauchen Maschinen zum Kommunizieren elektrische Nervenbahnen von Kupferleitungen oder ähnliches, für Elektrizität muss man Kohle verbrennen oder Atome spalten, für den Bau von Solarpanels müssen seltene Metalle aus der Erde gegraben werden. Ohne komplizierte Warenkreisläufe von rollenden LKWs und Güterwaggons funktioniert keine Fabrik. Eins greift immer ins andere, und so bilden all diese Beziehungen und Verbindungen eine Art Über-Organismus oder Ökosystem, innerhalb dessen sich die ganzen Einzeltechnologien bedingen, unterstützen und in Gang halten. Und das ist kurz gesagt das Wesen dieses Techniums, das wir uns durchaus als eine Art Lebewesen vorstellen dürfen. Zumal es sich laut Kevin Kelly derzeit in einem Entwicklungsstadium befindet, in dem es erste Ansätze von Autonomie entwickelt und anfängt, eigene Agenda zu verfolgen.

Bild zu: Die Meta-Maschinerie

Kelly, der Mann mit dem altmodischen Kinnbart im Abraham-Lincoln-Style, der die Amish People für ihre Zurückhaltung dem technischen Fortschritt gegenüber tief bewundert, sieht allerdings keinen Endkampf zwischen Mensch und Maschine heraufdämmern wie in der Teminator-Trilogie oder in „Matrix”. Die treibende Kraft der Selbstorganisation, die das Technium beseelt, verfolge keine grundsätzlich anderen Ziele als die belebte Natur auch: mehr Vielfalt, mehr Komplexität, mehr Effizienz, mehr Spezialisierung und mehr Allgegenwärtigkeit. Mehr Technologie bringe mehr Wahlfreiheit, mehr Optionen, und das sei etwas Gutes – selbst wenn man realistischerweise konzedieren müsse, dass man sich mit jeder neuen Technologie auch neue Probleme einhandelt. Was war beispielsweise das großflächige Versprühen von des Insektizides DDT für eine ökologische Katastrophe – in der Wohnung als Mittel gegen Malariamücken eingesetzt wirke es als Segen, so Kelly. Versuch macht kluch, könnte man es platt zusammenfassen.

Bild zu: Die Meta-Maschinerie

Wer nun aber in Kellys Buch detaillierte Vorhersagen darüber sucht, wie das Internet in diesen quasi-organischen Metakontext des Techniums passt, könnte etwas enttäuscht sein. Abgesehen von einer zu Herzen gehenden Liebeserklärung an das Web bleibt der Technikphilosoph hier recht vage. In einem Vortrag über das kommende Web 3.0 hat Kelly aber schon einige Entwicklungslinien skizziert. Zunächst einmal sollten wir uns das Internet nicht mehr nur als eine amorphe Ansammlung von unzähligen verbundenen Rechnern vorstellen, sondern als eine einzige große Maschinerie. Und das Verhältnis zwischen Mensch und Maschinerie kehre sich im Moment gerade um: „Fungierten Maschinen bisher als Erweiterungen der menschlichen Körperlichkeit und Sinnesorgane, wird der Mensch allmählich zu einer Erweiterung der großen Maschine”, diagnostiziert Kelly. Die Maschine sieht die Welt mit den Augen unserer Digitalkameras und Webcams. Und über kurz oder lang werde das Netz wie ein schwarzes Loch alles an Daten aufsaugen, was irgendwo da draußen unterwegs ist: „The web will own every single bit.” (Diesen Satz lasse ich der Wirkung halber jetzt mal unübersetzt). Das Netz der Verbindungen wird noch dichter, wir kommen mit dem Internet nicht mehr nur auf die Homepage der Fluggesellschaft, sondern bis zu unserem Sitz im Flieger. Das Netz wird die Nutzer erkennen und wissen, wer ihre Freunde sind, so Kelly: „Es kann doch nicht sein, dass wir das bei jedem neuen Dienst oder Netzwerk immer wieder aufs neue angeben müssen.” Es wird im Web 3.0 also wesentlich persönlicher, ja, intimer zugehen. Und Kelly weiß, dass das für viele eine ziemliche Horrorvorstellung ist. Aber diese Ängste habe es auch schon gegeben, als man anfing, Computer zu verbinden. Dann wieder, als erste Datenpakete über die Leitungen geschickt wurden und erneut, als man Seiten aufbaute und verlinkte. „Dass wir alle unsere Daten teilen werden, macht vielen Leuten Angst – aber wir werden daran wachsen”, prophezeit der „Wired”-Mitgründer.

Bild zu: Die Meta-Maschinerie

Dieses Credo „to share is to gain” wird auch gerne von anderen Web-Evangelisten wie dem unvermeidlichen Jeff Jarvis oder den Propheten der Post-Privacy gepredigt. Aber Kelly (immerhin war er einige Jahre als Rucksacktourist und Dropout auf Achse) mag man es zumindest ansatzweise abnehmen, wenn er sagt: „Die Option, da nicht mitzuspielen, ist immer gegeben.” Überhaupt bringe es die steigende Vielzahl an technologischen Optionen mit sich, dass wir gar nicht alles ausprobieren, entwickeln und anwenden können, was sich technisch anbietet. Die Folge: „So wie wir uns bisher überwiegend darüber definiert haben, was wir benutzen, werden wir uns künftig stärker darüber definieren, was wir nicht benutzen.” Das heißt, alle die zu Facebook & Co. auch weiterhin die Einstellung haben „brauch ich nicht” können sich dabei auf Kevin Kelly berufen.