Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Alles Müller oder was?

Der Durchschnitts-Nutzer hat das Internet gut in sein Leben integriert – im Netz zuhause ist er aber noch lange nicht. Eine Replik

Der Durchschnitts-Nutzer hat das Internet gut in sein Leben integriert – im Netz zuhause ist er aber noch lange nicht. Eine Replik

Als ich vorige Woche an dieser Stelle den Beitrag von Teresa Bücker über das Ende des Internets als eigenständige Sphäre las, war ich ziemlich hin- und hergerissen. Einerseits ganz klares „ja”: Auch ich kann und will eigentlich kaum noch auseinanderklamüsern, welche meiner Kontakte und Bekanntschaften ursprünglich im Internet ihren Anfang nahmen und welche in der Kohlenstoffwelt. Das Internet ist selbstverständlicher Teil meiner Arbeitswelt und auch meines Privatlebens – aber ist die Trennung zwischen Netz und realem Leben deswegen völlig hinfällig? Und selbst wenn ich das für mich persönlich bejahen würde, kann man das so ohne weiteres auf die gesamtgesellschaftliche Ebene extrapolieren? Sind wir alle wirklich schon so weit „drin” im prallen digitalen Leben, dass die Trennung dieser Sphären wirklich als überholt und gestrig gelten kann?

Da trifft es sich ganz gut, dass die Werbeagentur Jung von Matt dieser Tage den typischen Norbert Normalnutzer mal etwas genauer unter die Lupe genommen und vermessen hat. Die empirische Basis liefern Daten aus der Onlinestudie von ARD und ZDF, der Allensbacher Computer- und Technikanalyse (ACTA) sowie dem (N)Onliner-Atlas der Initiative D 21 und diversen anderen Statistiken und Befragungen. Den personifizierten Mittelwert daraus haben Hamburger Werber von JvM in eine Kunstfigur gegossen: Thomas Müller, 46, verheiratet ein Kind, Bewohner einer 90-Quadratmeter-Wohnung, deren Wohnzimmer die Werbestrategen als Modell von „Deutschlands häufigstem Wohnzimmer” nachgebaut haben – mit cremefarbener Sitzgarnitur, Couchtisch mit Glasplatte, Flachbildschirm-Fernseher und seit 2007 auch einem PC-Platz gegenüber der Hellholz-Schrankwand.

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Den Erkenntnissen der Werber zufolge haben die Müllers Computer und Internet recht schnell in ihr  Normalverbraucherdasein integriert. Spon als Startseite, Wanderwetter fürs Wochenende nachgucken bei wetter.com, Schnäppchensuche bei Ebay – und wenn Frau und Sohnemann Müller nicht im Hause sind, wagt Papa auch mal ein bisschen Fleischbeschau. Manchmal geht er aber auch eher unkonventionelle und umständliche Wege: Anstatt die Adresse in die Browserzeile einzugeben oder über die Bookmarks zu gehen, schreibt er „ebay” in die Google-Suchmaske und klickt dann auf den ersten Treffer. Nach Songs oder Filmtrailern stöbert er gleich auf Youtube. Wer Thomas Müller mehr oder weniger in Echtzeit beim Mausrumrutschen und Anklicken zusehen will, kann das prototypische Nutzerverhalten übrigens in einer interaktiven Graphik mitverfolgen. Bei deren Betrachtung ist man allerdings recht schnell sehr dankbar für den Fast-Forward-Button.

Trotzdem: Wir sollten uns dieses erschütternde Dokument ganz genau ansehen, um ein realistischeres Bild von der digitalen Lage der Nation zu bekommen. Die konstituiert sich nicht allein aus dem was ist, sondern auch aus dem, was nicht stattfindet: Thomas hat seine Claudia nicht über eine Datingplattform oder beim Bloggen kennengelernt. Twitter findet in diesem Müllerschen Mikrokosmos nicht statt, von Location Based Services ganz zu schweigen, iPhone oder andere Smartphones ebenso Fehlanzeige wie Tablet-Rechner. Da kann ein Sascha Lobo noch so schön von seiner neuen Heimat Internet schwärmen – der Normalnutzer bewegt sich in Digitalien allenfalls wie ein Tagestourist, aber noch lange nicht wie ein Einheimischer. Der Weg bis zu seiner echten Einbürgerung in der elektronischen Welt ist womöglich doch etwas länger als es sich die Vordenker und Visionäre einer allumfassenden Always-on-Gesellschaft in ihrer hochvernetzten und technikverliebten Blase vorstellen können.

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Vielleicht verläuft die entscheidendere Trennlinie in der Gesellschaft gar nicht mehr zwischen On- und Offlinern. Die „digitale Spaltung zweiter Ordnung”, vor welcher der Medienwissenschaftler Thomas Burg von der Donau-Universität Krems schon vor einem halben Jahrzehnt warnte, ist kein Hirngespinst. Die Diskussion damals drehte sich um Web 2.0 und sogenannte „social software”- also RSS, Social Bookmarking, Wikis, Blogs und Podcasts. In der Zwischenzeit mögen die Buzzwords mehrfach gewechselt haben, gleichwohl bleibt es dabei, dass die Zukunft womöglich schon da ist, nur eben sehr ungleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt.

Teresa Bücker fragt völlig zu Recht, was es bedeute, dass es für zahlreiche Menschen keinen Unterschied mehr macht, wo sie Gespräche führen, Freundschaften pflegen, ihre Zeitung lesen, ihrem Kind eine gute Nacht wünschen, den Wintermantel kaufen, Straftaten begehen oder sich hoffnungslos verlieben. Aber mit gleichem Recht kann man fragen: Was bedeutet das für den Rest der Bevölkerung, dem der Unterschied zwischen On- und Offline-Welt noch ganz real erscheint? Natürlich wäre es wohlfeil und kurzsichtig, ein Phänomen wie Cybermobbing nur als netzimmanentes Problem zu sehen und anzugehen. Aber seien wir mal ehrlich: Von Netzseite klingt der Hinweis auf die gesamtgesellschaftliche Dimension der Problematik oftmals auch nur nach einer lahmen Ausrede, keine Verantwortung übernehmen zu müssen und am liebsten alles so zu lassen wie es ist.

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Wer Netz und Leben einfach 1:1 gleichsetzt, verkennt womöglich auch, dass hier und dort durchaus unterschiedliche Schmerzgrenzen existieren. Ein fieser Spruch an der Klowand der Schule kann verletzen, klar, aber spätestens beim nächsten Streichen des Örtchens ist er wieder weg, und es hat ihn auch nur eine begrenzte Zahl von Rezipienten gesehen. Online steht er wenn es dumm läuft bis in alle Ewigkeit für die ganze Welt zu lesen im Netz. Andererseits lassen wir uns online – gerade auch beim Einkaufen – manchmal in einer Art und Weise behandeln,  die wir einem stationären Händler nie verzeihen würden. Glauben Sie nicht? Dann gucken Sie doch mal dieses Filmchen. Auch wenn es eigentlich nur Werbung für Google Analytics ist – es enthält einen wahren Kern.