Vordenker und Trendgurus sehen bereits das post-digitale Zeitalter anbrechen, in dem die Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Welt keinen großen Sinn mehr ergibt. Eine Standortbestimmung
Was war das doch für eine grandiose Zukunft, wie man sie sich in den späten 50ern oder frühen 60ern für unsere Jetztzeit ausmalte: atomgetriebene und fliegende Autos in gigantischen Häuserschluchten, endlose Laufbänder für den Fußgängerverkehr in glaskuppelüberdachten Megametropolen – oder dass sich der hypermoderne Mensch vor lauter Zeitnot nur noch mit praktischer Tuben- und Pillen-Nahrung ernährt wie Astronauten im All. Gemessen an diesen kühnen Visionen der Futurologen der Nachkriegsära nimmt sich das real existierende Hier und Jetzt mit Flachbildschirmen, Festplattenrekordern und tragbaren Fernsprechern mit Fingerwisch-Bedienung fast ein bisschen, nun ja, bescheiden aus. Karl Valentin, der bajuwarische Erz-Spötter, hatte es schon richtig erkannt: „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war.”
Heute vielleicht noch weniger denn je. Angesichts sich überlappender Retro- und Nostalgiewellen scheint es fast, als wäre für weite Teile der heutigen Gesellschaft hinten das neue vorne. Als Indiz für diese Diagnose mögen die Proteste gegen Stuttgart 21 ebenso herhalten wie die seit Jahren steigenden Verkaufszahlen der Zeitschrift „Landlust” oder der Geschäftserfolg des Spezialversenders Manufactum. Der reklamiert für sein Sortiment das Motto „Es gibt sie noch, die guten Dinge” ¬- und nur in den allerseltensten Fällen sind diese vorgeblich guten (weil langlebigen) Dinge elektronisch oder gar virtuell. Regiert da „German Angst” vor den disruptiven Folgen der Digitalisierung? Sind Versuche eines nachhaltigeren Konsums im Analog-Gegenständlichen nur eine Flucht in Sachwerte, weil sich immer mehr Prozesse des modernen Daseins in teilvirtuelle Service-Clouds verlagern?
Vielleicht darf man das nicht ganz so eng sehen als Frage von entweder-oder. Ironisch-spielerische Kombinationen von alt und neu sind auf dem Gadget-Markt derzeit heiß gehandelt: Da stöpseln sich junge Leute archaische Telefonhörer aus der Ära des Postmonopols als Sprechhilfe ans Smartphone, der letzte Schrei bei den Handy-Klingeltönen ist die klassische Zweischalen-Bimmel des Wählscheiben-Telefons. Und wer den technologischen Cross-Over auf die Spitze treiben will, der kann sich eine pseudo-antike mechanische Schreibmaschine per USB als externe Tastatur ans Ipad klemmen.
Wenn man diversen Vordenkern und Trendgurus glauben darf, dann markieren solche spielerischen Fusionen von analoger und digitaler Technik einen Paradigmenwechsel, ein neues postdigitales Zeitalter. „Postdigital heißt gerade nicht, dass digitale Technologien und digitale Medien heute keine Rolle mehr spielen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die tiefe und nachhaltige Durchsetzung der Digitalisierung ist eine notwendige Bedingung für den postdigitalen Zustand”, schrieb Benedikt Köhler bereits vor zwei Jahren. Oder anders gesagt: post- meint durchaus nicht anti-, so wie die Postmoderne ja auch keine Gegenmoderne darstellt, sondern auf den Errungenschaften der Moderne gewissermaßen aufsetzt.
In Berlin findet im Mai die diesjährige „next”-Konferenz unter dem Oberthema „Postdigital” statt. Da werden sich dann Marketingleute, Kreative, Investoren, Start-ups, Technologie- und Social-Media-Experten die Köpfe heißreden beim Versuch, diesen noch ziemlich abstrakten und blutleeren Begriff mit Leben zu erfüllen. Über postdigitalen Lifestyle und Workflow referiert der in Hamburg lebende Grafiker, Designer und Objektkünstler Jeremy Tai Abbett, der analoge und digitale Gerätschaften zu allerlei skurrilen Installationen zusammenfügt. Abbott und andere Postdigitalisten wollen den PC und all die anderen digitalen Plattformen vom Podest mit der gemeißelten Inschrift „Technologie” herunterholen. „Ein Hosenknopf oder ein Reißverschluss ist auch Technologie. Sie wird aber nicht mehr als solche wahrgenommen und ganz selbstverständlich genutzt.” Diesen Weg werde die digitale Technik auch gehen, sagt Abbott, man wird sie soundso oft am Tag nutzen, ohne zweimal darüber nachzudenken. Die vernetzte technische Intelligenz ist dann so allgegenwärtig, selbstverständlich und unspektakulär wie Sauerstoff in der Luft oder das Trinkwasser, das aus dem Hahn kommt. Bereits 1998 hatte der MIT-Medialab-Chef Nicholas Negroponte unter der Überschrift „beyond digital” die These vertreten: Computer, wie wir sie heute kennen, seien erstens langweilig und verschwänden zweitens in Alltagsdinge, von smarten Nägeln über fahrerlose Autos und therapeutische Barbiepuppen bis hin zu intelligenten Türschlössern, die den Paketboten hereinlassen und den Hund bei Bedarf hinaus. Doch wirklich erreicht ist das gelobte Land Postdigitalien, das Negroponte uns verhieß und wo man Nano-Computer in der Kleidung und den Schuhen mit sich herumträgt und sogar mit dem Essen runterschluckt, freilich noch nicht. Für den vielbeschworenen intelligenten Kühlschrank etwa, der selbsttätig Milch oder Butter nachbestellt, sehen die Hersteller bislang keinen Massenmarkt.
Wahrscheinlich wird es in der nächsten Zeit immer weniger um den großen und weltverändernden Wurf gehen, sondern eher nach dem abgewandelten Motto von Maos Kulturrevolution: Lasst Millionen Microcomputer blühen! Das neue Internetprotokoll IPv6 hat die drohende Knappheit von IP-Adressen abgewendet. Ein wesentliches Hindernis für Vernetzung von Kleinstcomputern ist damit aus dem Weg geräumt. Schätzungen des Netzwerkausrüsters Cisco zufolge dürften im Jahre 2020 rund 50 Milliarden Geräte über Netzanbindung verfügen. Sensoren, Kameras, und eingebaute Kleinst-Chips werden den heute bekannten Datenraum enorm erweitern. Adidas hat bereits einen intelligenten Laufschuh vorgestellt, der Geschwindigkeit, Beschleunigung, gelaufene Distanz und Laufrhythmus protokolliert. Solches permanentes „self-measurement” wird uns irgendwann genauso selbstverständlich und banal erscheinen wie Tacho und Tankanzeige im Auto.
Aber führt die Geräte- und Datenschwemme nicht dazu, dass sich das Hamsterrad immer schneller dreht und uns vor lauter selbst- und fremderzeugtem Datenwust irgendwann die Synapsen durchschmoren? Hirnforscher Gerald Hüther teilt diese Sorge nicht: „Wer digitale Medien mit großer Begeisterung als Werkzeuge einsetzt, passt sich und die neuronalen Verschaltungen in seinem Hirn daran an.” Wie der Medientheoretiker Marshall McLuhan sinngemäß sagte, ist es kühl, wo das Leben heiß hergeht. Anders gesagt, jeder Trend trägt auch bereits den Keim des Gegentrends in sich. Wir erleben eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der sich postdigitale Pioniere mikrocomputerisierte Kleidungsstücke (sogenannte „wearables”) überziehen und daran tüfteln, Daten nicht nur auf Displays von Datenbrillen zu projizieren, sondern auf Kontaktlinsen oder direkt auf die Netzhaut. Und zur gleichen Zeit leben noch genügend Menschen, die noch nicht mal ihr Girokonto online verwalten und die es gerade mal geschafft haben, sich bei Facebook anzumelden. Die sind noch gar nicht so recht digital beschleunigt, während sich die Netz-Avantgarde bereits in postdigitalen Lebens- und Arbeitskonzepten einrichtet – und die Langsamkeit wiederentdeckt. Manchmal ist hinten dann eben doch das neue Vorne.