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Olympiawertungen – mal anders

Alle Welt beobachtet wie hypnotisiert die Medaillenspiegel – ohne zu berücksichtigen, mit welch unterschiedlichen Voraussetzungen die Länder starten. Eine alternative Perspektive.

Alle Welt beobachtet wie hypnotisiert die Medaillenspiegel – ohne zu berücksichtigen, mit welch unterschiedlichen Voraussetzungen die Länder starten. Eine alternative Perspektive.

Wenn das ZDF am Sonntagmorgen stundenlang Bahnradfahren überträgt und Siebenkämpferinnen es auf die Frontpage schaffen, ist Olympia. Die geschätzte Kollegin hat sich bereits mit der flauschigen Seite des Sports beschäftigt, während die meisten Medien sich vor allem für harte Fakten interessieren: Den Medaillenspiegel. Auch Randsportarten gewinnen plötzlich an Glamour, solange sie nur für Edelmetall gut sind und eine Medaille nach Hause bringen. Historische Vergleiche werden dutzendweise ausgepackt, wobei die Top-Nationen alle Jahre wieder dieselben sind: China und USA vorneweg, England, Frankreich, Italien und Deutschland unter den Top Ten, dazwischen einige asiatische Länder, die zu vertieften Reflektionen einladen. Insgesamt ein wenig überraschendes Bild.

Das Internet weiß, daß der Medaillenspiegel sich zuerst nach den Goldmedaillen richtet. Erst wenn es dort zum Gleichstand kommt, zählen auch Silber- und anschließend Bronzemedaillen, was mir irgendwie ungerecht vorkommt: könnte man die Medaillen nicht vielleicht etwas anders gewichten? Andererseits würde das beim Blick auf die aktuellen ersten zwanzig Plätze auch nicht viel ändern, also ist die Überlegung vermutlich müßig.

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Weniger müßig ist allerdings die Frage nach einer anderen Gewichtung: der nach Einkommen oder Einwohnerzahl. Es ist schließlich völlig logisch, daß Länder mit größeren Ressourcen auch größere sportliche Erfolge feiern. Offenbar sind Medaillen sogar noch ungleicher verteilt als Einkommen: während 42 % der Einkommen den reichsten 10 % der Menschen auf der Welt zufließen, haben bei den letzten olympischen Spielen 5 % der Nationen (10 Industrieländer) ganze 50 % der Medaillen errungen (wobei wir die Schwierigkeiten der Messung von Ungleichheit für den Moment ignorieren wollen).

Dabei hinkt der absolute Vergleich ganz offensichtlich: die USA haben 300 Millionen Einwohner, China gar 1.330 Millionen – kein Wunder, daß die beiden Länder mit Abstand die meisten Spitzensportler an den Start bringen können. Träten wir zukünftig als die Haftungsvereinigten Staaten von Europa mit einem Pool von über 500 Millionen Einwohnern an, hätten wir locker 48 Goldmedaillen (Stand Sonntag) und würden damit noch für ein paar Jahre die Chinesen und Amerikaner das Fürchten lehren.

Diese Schätzung über den Daumen ist äußerst schmeichelhaft für das arg gebeutelte europäische Ego, aber wenn man den Vergleich systematisch betreibt, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Nimmt man die ersten 50 Länder im Medaillenspiegel und verrechnet die Anzahl der Goldmedaillen mit dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beziehungsweise der Einwohnerzahl, sieht das Ranking (am Sonntag Morgen) so aus:

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Die Vorreiter USA landen weit abgeschlagen auf den Plätzen 5 (nach Einkommen) oder 19 (nach Bevölkerung), während China nach Einkommen immer noch recht gut abschneidet, nach Bevölkerung hingegen noch weiter hinten liegt. Angesichts der finanziell verfügbaren Ressourcen schlägt sich unter anderem Äthiopien, eines der ärmsten Länder der Welt, wacker auf Platz 3, gleich hinter Nordkorea. Gemessen an der Bevölkerung wiederum sind es ausgerechnet Zwergstaaten wie Slowenien oder Litauen, die besonders gut abschneiden. Die Liste würde in diesem Fall von Neuseeland angeführt, das mit aktuellem Rang 13 (3 Goldmedaillen) nicht abgebildet ist.

Natürlich bin ich nicht die Erste, die diese sensationelle Idee hatte. Der Wissenschaftler Bruno Frey hat eine ähnliche Rechnung schon vor Jahren für die Winterspiele aufgestellt, wo die Medaillenverteilung natürlich eine völlig andere ist (aber das Ergebnis zum Beispiel für die Schweiz nach Bereinigung um Einkommen oder Bevölkerung sehr viel bescheidener ausfällt).

Gewichtet man die Medaillen anders, so daß auch Silber- und Goldmedaillen von Anfang an in das Ranking einfliessen, sieht das Bild wieder anders aus. Am fairsten wäre vermutlich eine Aufstellung, die alle Faktoren berücksichtigt: ohne Frage ist das Bevölkerungspotential von Bedeutung, denn je mehr Einwohner, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß Ausnahmetalente darunter sind. Ohne finanzielle Ressourcen hilft das jedoch nichts, sonst müßten Bangladesh und Pakistan (beides sehr bevölkerungsreiche Länder) in den Tabellen vertreten sein. Man braucht jedoch überhaupt eine systematische Förderung – und dann natürlich auch besondere Ressourcen für besondere Sportarten. Interessant wäre es sicher auch, die Ergebnisse der spezifischen Förderung zu vergleichen, also miteinzubeziehen, wieviel Länder in ihre Sportförderung investieren.

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Eine andere Tatsache ist so trivial, daß sie mir erst bei den Recherchen im Internet bewußt wurde: daß Afrikaner vor allem in der Leichtathletik vorne mitlaufen ist kein Zufall – ebensowenig wie die Dominanz von Europäern in teuren Sportarten wie Reiten oder Bahnradfahren.

Vermutlich sollten wir Europäer froh sein, daß in den letzten Jahrzehnten manche ressourcenlastige Sportart (z.B. Golf oder BMX-Rad) hinzugekommen ist (Bahnradrennen gibt es erstaunlicherweise bereits 1896). In der Nationenwertung Leichtathletk hat Kenia sich nämlich bereits auf Platz 6 vorgekämpft, und Äthiopien auf Platz 12 – im historischen Kontext gesehen, beachtliche Leistungen, denn Kenia zum Beispiel nimmt erst seit 1956 an olympischen Spielen teil. Zum Laufen braucht es aber auch keine Hochtechnologie, keine mit Computern getrimmten Spezialmaterialien, und keine speziellen Sportstätten. So gesehen, ergibt auch die weltweite Beliebtheit von Fußball Sinn, im Vergleich mit, sagen wir mal, Lacrosse oder American Football.

Auch wenn sich der korrigierte Medaillenspiegel wohl nicht so schnell im Mainstream durchsetzen wird, werden die Daten immerhin für die Prognose der Ergebnisse bereits sinnvoll genutzt. Wissenschaftler haben im Vorfeld von London 2012 Länderdaten wie Einkommen, Bevölkerung und andere Variablen (inklusive weniger tangibler Faktoren wie Heimvorteil oder gesteigerter Ehrgeiz als baldiger Austragungsort) verwendet, um die Olympiaerfolge der Vergangenheit zu erklären, und können mit den daraus abgeleiteten Prognosen ziemlich präzise vorhersagen, wieviele Medaillen die Teilnehmerländer erringen werden. Dabei zeichnete sich offenbar ab, daß gleichberechtigte Gesellschaften mehr weibliche Olympiamedaillen zu verzeichnen haben, sozialistische Länder sehr systematisch Sportförderung betrieben haben (und davon offenbar noch heute profitieren) und auch das Klima und politische Faktoren eine Rolle spielen. Die Ergebnisse sind allerdings nicht neu: China und die USA vorne, Deutschland etwas schlechter als in der Vergangenheit. Wir werden ja sehen, ob das stimmt.