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Auch das Chaos hat Gesetze

In den Naturwissenschaften hat alles seine Ordnung - sogar das Chaos. Die Chaostheorie beschreibt nämlich nur scheinbar Unordnung, tatsächlich handelt es sich um Naturgesetze.

In den Naturwissenschaften hat alles seine Ordnung – sogar das Chaos. Die Chaostheorie beschreibt nämlich nur scheinbar Unordnung, tatsächlich handelt es sich um Naturgesetze.

Chaos im Alltag ist ein sehr subjektives Konzept. Deutsche Autofahrer in italienischen Innenstädten klagen gerne über das dortige Verkehrschaos, aber die sind vermutlich noch nie in Kairo oder Casablanca Auto gefahren. Zuverlässige Quellen berichten, daß ein arabisches Verkehrschaos im Vergleich mit dem Trubel in indischen Metropolen verblaßt, und auch afrikanische Innenstädte sind nicht von schlechten Eltern. Dann gibt es das Winter- und Schneechaos, das im Moment wieder in aller Munde ist – obwohl es Deutschland mit schöner Regelmäßigkeit alljährlich im November oder Dezember heimsucht. Trotzdem fällt die Umstellung jedes Mal wieder schwer, und nie sind wir wirklich auf die Umstände vorbereitet. Manche Menschen richten sogar die Papierstapel auf dem Schreibtisch noch mit dem Geodreieck aus, während andere “kreatives Chaos” benötigen, um geistig angeregt zu werden. Letzere berufen sich gerne auf die Chaostheorie, genauso wie Meteorologen und Börsenmakler, aber ignorieren dabei völlig, daß in der Wissenschaft sogar das Chaos Struktur hat.

Zwar ist die Chaostheorie eine Idee der Moderne, hat aber ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert. Seit Newton sind die Naturgesetze, welche natürliche Phänomene mit absoluter Exaktheit beschreiben und deren Vorhersagen in Experimenten stets reproduzierbar sind, der Maßstab der Wissenschaft. Diese Naturgesetze sind deterministisch – d.h. bei Kenntnis der Ausgangslage sowie der Gesetzmäßigkeiten, welche die Veränderungen beschreiben, läßt sich der Endzustand berechnen.

Mit der Statistik haben auch probabilistische Gesetze an Bedeutung gewonnen, bei denen scheinbar zufällige Ereignisse eben doch Muster bilden – wenn man sie nur oft genug wiederholt. Unendlich viele verschiedene Verteilungsfunktionen helfen bei der Beschreibung von Zusammenhängen, die sich mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten ergeben, wie zum Beispiel das Gesetz der großen Zahl. Auch die Thermodynamik behilft sich oft mit probabilistschen Aussagen, weil die Ergebnisse nicht präzise genug meßbar sind. Die Chaostheorie hingegen ist eine Klasse für sich.

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Isaac Newton bewies um die Mitte des 17. Jahrhunderts, daß sich mit Hilfe der Naturgesetze die Umlaufbahnen zweier Himmelskörper einwandfrei durch ein Gleichungssystem und entsprechende Ableitungen beschreiben lassen, so daß dieses System mathematisch allgemein lösbar ist (also lösbar für allgemeine Variablen x, y etc.). Für drei Himmelskörper konnte er das allerdings schon nicht mehr zeigen, und erst Poincaré stellte fast zweihundert Jahre später fest, daß das Gleichungssystem für mehr als zwei Himmelskörper nicht mehr allgemein lösbar ist. Eine Lösung für das sogenannte Dreikörperproblem (manchmal auch n-Körper-Problem) läßt sich mit mathematischen Verfahren, zum Beispiel Taylor-Polynomen näherungsweise schätzen, aber nicht exakt bestimmen. Implizit fand Poincaré dabei heraus, daß das die Ergebnisse von den Ausgangszuständen abhängen, die wiederum in vielen Fällen nicht mit hinreichender Exaktheit nachvollzogen werden können. Selbst in Fällen also, in denen prinzipiell Naturgesetze gelten – wie zum Beispiel bei den Umlaufbahnen von Himmelskörpern, die sich durch Masse, Anziehungskraft, Geschwindigkeit etc. beschreiben lassen – können trotzdem keine Prognosen vorgenommen werden, weil minimal unterschiedliche Anfangszustände auf längere Sicht zu völlig unterschiedlichen Umlaufenbahnen führen.

Man muß sich eigentlich wundern, daß die Menschheit mit so völlig unzureichendem Wissen und Verständnis bis auf den Mond gekommen ist, aber für solche Unterfangen scheinen die näherungsweisen Schätzungen gut genug gewesen zu sein. Mit seinen Ergebnissen und Feststellungen gilt Poincaré als einer der Begründer der Chaostheorie, wobei Edward Lorenz sich als erster systematisch mit der Chaostheorie befasst hat. Auch er stieß allerdings eher zufällig darauf. 1963 befasste sich Lorenz mit Wettervorhersagen. Da Rechenzeit an Computern teuer und begrenzt war, und man den Maschinen gleichzeitig noch nicht blind vertraute, führte er einige Berechnungen mehrfach durch, wobei er aus Sparsamkeit im zweiten Durchgang auf etwas weniger Nachkommastellen rundete. Faszinierenderweise unterschieden sich die Ergebnisse voneinander, und zwar umso mehr, je länger der Zeithorizont der Prognose war.

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Von diesem Ausgangspunkt entwickelte Lorenz seine Forschung weiter und stellte fest, daß minimale Unterschiede in der Ausgangssituation zu anfangs geringfügig unterschiedlichen Entwicklungen führten, aber sich diese Unterschiede im Zeitablauf immer weiter verstärkten, so daß die Endergebnisse irgendwann völlig unterschiedlich waren.

Die Wetterprognosen sahen im Ergebnis probabilistisch oder sogar chaotisch aus, waren aber durchaus von deterministischen Naturgesetzen bestimmt – ein wesentliches Merkmal der Chaostheorie. Zusätzlich verkompliziert werden chaotische Dynamiken dadurch, daß die sie beschreibenden Gleichungssysteme nichtlinearer Art sind, und sich im Zeitablauf verändern. Immerhin haben sie dafür einige hübsche mathematische Eigenschaften – zum Beispiel einen Hang zu Fraktalen (also Strukturen, bei denen die Teilstrukturen der Großstruktur entsprechen, siehe Bilder hier).

Die fraktalen Muster sind besonders nützlich, weil sie es leichter machen, wissenschaftlich-naturgesetzlich chaotische Zusammenhänge zu erkennen – jedenfalls, seit es den Computer gibt. Börsenkurse, Verkehrsflüsse, meteorologische Probleme, in allen kann man fraktale Muster erkennen, und alle weisen typisch chaotische Eigenschaften auf. Vor diesem Hintergrund wird auch das Bild vom Schmetterling, der einen Sturm verursacht, verständlich. Lorenzen verwendete diese Metapher tatsächlich für einen Vortrag; nicht zuletzt allerdings, weil einige seiner Analysen in visueller Darstellung zu Linien führten, die wie Schmetterlingsflügel aussahen. Dennoch ist das Bild nicht völlig unpassend, denn in der deterministischen Chaostheorie kann tatsächlich ein minimaler Unterschied (also auch der Flügelschlag eines Schmetterlings) zu minimalen Abweichungen führen, die sich über die Zeit so sehr potenzieren, daß völlig neue Ergebnisse zustande kommen – gegebenenfalls auch Stürme.

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Diese besondere Eigenschaft erklärt auch, warum die Meteorologie bis heute eine so unpräzise Wissenschaft ist. Wir wissen viel über die Gesetzmäßigkeiten meteorologischer Phänomene, aber um die Originalzustände hinreichend exakt messen zu können, müßten wir die gesamte Erde mit Wetterstationen zupflastern. Und solange wir das nicht tun, bleibt die Unsicherheit bei Prognosen über mehr als einige wenige Tage.

Dennoch gibt es Fortschritte zu verzeichnen. Verkehrsbewegungen weisen häufig Eigenschaften von deterministischem Chaos auf – aber hier kann man durch Zugabe einiger statistischer Erfahrungswerte gute Erfolge in der Prognosequalität erzielen. Mit Hilfe der mechanischen Physik sind auch Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten heutzutage ein sehr erfolgreiches Produkt chaostheoretischer Prinzipien. Während die ersten Karusellmodelle, die sich überraschend in mehreren Dimensionen bewegen (verschiedene Richtungen, verschiedene Geschwindigkeiten) noch mit der Intuition findiger Ingenieure entwickelt wurden, gibt es heute sogar zu diesem speziellen Thema Forschungsergebnisse, die zeigen wie manche Fahrgeschäfte äußerst sensibel auf kleine Änderungen (zum Beispiel Gewicht oder Bewegungen der Passagiere) reagieren. Und natürlicht gibt es auch Forschung, die konstruktionstechnische Sicherheitsmargen für diese Risiken berechnet. Das nimmt aber Kindern (auch großen Kindern) nicht die Freude daran, kopfüber ins Chaos einzutauchen. Und für erwachsene Chaosliebhaber gibt es den Winterverkehr oder den Sommerurlaub in Italien.