Mit Mitte zwanzig mußte ich – höchst unfreiwillig – meinen Fernseher aufgeben. Ich hatte soeben das Studienfach gewechselt, kam in eine neue Stadt, in eine neue Wohnung, mit all dem Sress eines Umzugswochenendes. Meine Eltern und ich trugen den Fernseher ins Zimmer, meine Mutter wollte uns in die Nähe des Kabelanschlußes dirigieren – allein, es gab keinen. Bei der Wohnungsbesichtigung war mir der Gedanke überhaupt nicht gekommen, es könne noch Behausungen ohne Kabelanschluß geben, aber genauso war es. Die öffentlich-rechtlichen Programme konnte ich mit der Antenne gerade noch empfangen, Kabelanschluß verlegen zu lassen war zu teuer, und am Ende habe ich zwei Jahre damit verbracht, viele Bücher zu lesen, was auch nicht verkehrt war.
Ob Bücher dick oder dünn machen, ist nicht bekannt – aber Fernsehen macht angeblich dick (und Computer und Internet auch). Unzählige Studien, vor allem mit Kindern, versuchen den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Körpergewicht nachzuweisen, und gerne wird dabei der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität unterschlagen. Bei komplexen Phänomen greifen monokausale Erklärungen fast immer zu kurz, so auch hier. Es gibt unzählige Gründe, die alle dazu beitragen, daß der durchschnittliche Bürger eines Industrielandes immer schwerer wird.
Die moderne Wirtschaft ist vom tertiären Sektor, also Dienstleistungen, geprägt, und solche Tätigkeiten sind typischerweise weniger bewegungsintensiv als das Jagen und Sammeln von früher, oder die harte Arbeit auf dem Acker.
Veränderte Ernährungsmuster spielen ganz sicher auch eine Rolle. In Entwicklungsländern muß man Tütensaucen und Fertiggerichte im Supermarkt mühsam suchen, in der Schweiz ist die Auswahl begrenzt, in Deutschland erheblich größer, und in den USA sucht man eher die unbehandelten Nahrungsmittel. In der Schweiz ist eine Mahlzeit auf dem Sofa nahezu undenkbar, in Deutschland eine von mehreren Optionen und in amerikanischen Familien oftmals die einzige. Über die biologischen Mechanismen, die einen Zusammenhang zwischen der Art der Lebensmittel und Übergewicht herstellen können, weiß man – wie so oft – auch nicht genug. Glutamate machen dick, richtige Fette machen satt, Zuckerersatzstoffe hingegen regen den Appetit an – viele Korrelationen, Kausalität nachzuweisen ist hingegen mühsam.
Abgesehen vom reinen Erkenntnisinteresse, das man an solchen Fragen haben kann, ergibt sich aus unserem unzureichenden Verständnis der Zusammenhänge aber noch ein weiteres Problem: die Politik mischt sich immer öfter in solche privaten Entscheidungen der Menschen ein – das allerdings häufig im wissenschaftlichen Blindflug, weil so viele Mechanismen völlig unklar sind. Ob die New Yorker wirklich alle abnehmen würden, wenn 1-Liter-Colabecher verboten würden? Ob bunte Lebensmittelampeln tatsächlich jenen bei der Ernährung helfen, die Hilfe bräuchten? Und wo bringt man auf der von mir geliebten Weihnachtsgans das dunkelrote Schildchen an?
Wer sich schon mal mit Diäten versucht hat, weiß, wie schwierig abnehmen ist. Selbst bei optimaler Anleitung, ohne absurde Essenspläne à la “nur Weißbrot” oder “nur Kohlsuppe”, in Kombination mit einem sportlichen Ausgleichsprogramm, gelingt es doch nur wenigen, dauerhaft das Gewicht zu reduzieren. Als weitgehend gesichert gilt, daß der Körper, wenn man plötzlich weniger isst, den Grundumsatz reduziert – also den Kalorienverbrauch im Ruhezustand wie auch für Aktivitäten vermindert. Das war in früheren Zeiten sinnvoll, um Hungersnöte zu überbrücken – zumal zum Beispiel mangelernährte Kinder einen Teil des Entwicklungsrückstands relativ schnell wieder aufholen können. Studien zeigen, daß Kinder, die während Hungersnöten zu wenig wachsen, dafür umso schneller wachsen, sobald sie wieder angemessen ernährt werden. Der Rückstand wird zwar nicht völlig aufgeholt, aber zumindest teilweise. Die Evolution hat dem Menschen zusätzlich sogar noch einen psychologischen Hilfsmechanismus mitgegeben: bei Hunger werden Serotonine ausgeschüttet, zum Teil auch Endorphine, so daß Hungern glücklich macht (und Anorexie eine besonders fatale Eßstörung).
In Industrieländern hingegen sind die Hungersnöte für die meisten Menschen eine selbstgewählte Kasteiung – umso frustrierender, wenn man nicht ans Ziel gelangt, wenn die Gesellschaft trotz aller flankierenden politischen Maßnahmen immer schwerer wird. Dabei ist das Gewicht vermutlich zu wesentlichen Teilen von den Genen bestimmt – und gegen seine Gene anzuhungern ein aussichtsloses Unterfangen.
Bei den oben erwähnten Studien zu Fernsehkonsum und Kindergewicht ist die logische Lücke offensichtlich: Eltern, die den Fernsehkonsum ihrer Kinder begrenzen, achten vermutlich auch auf gesunde Ernährung und fördern sportliche Aktivitäten. Das ist mitnichten Kausalität, sondern Korrelation. Solange man den biologischen Mechanismen und Genen nicht im Labor zuleiberücken kann, bleiben nur beobachtende, statistische Studien. Das Ideal wäre, dieselben Kinder in veschiedenen Familien beobachten zu können: solchen, in denen auf gesunde Ernährung und Sport geachtet wird, solchen, wo der Fernseher der Babysitter ist, aber die Ernährung ausgewogen und solchen, wo das Abendessen von der Fastfoodkette serviert wird. Unterschiede im Gewicht wären dann tatsächlich auf die unterschiedlichen Umstände zurückzuführen – aber ein derartiges Experiment ist erstens unrealistisch und zweitens unethisch, daher ausgeschlossen. Studien mit ein- und zweieiigen Zwillinge deuten darauf hin, daß das Erbgut eine entscheidende Rolle für das Gewicht spielt – können allerdings die Umwelteinflüsse des familiären Umfelds kaum von den Genen trennen.
Ungleiche Umstände wie oben beschrieben künstlich herzustellen, wäre fragwürdig, aber das Leben beschert Forschern annähernd ähnliche Umstände, wenn Zwillinge zur Adoption freigegeben werden und in unterschiedlichen Haushalten aufwachsen. Schweden hat einen der am häufigsten verwendeten Zwillingsdatensätze jeden Alters (insgesamt 25.000 Zwillingspaare geboren zwischen 1886 und 1958). Die Zwillinge sind im Durchschnitt 60 Jahre alt, weil in der Zeit vor 1930 Zwillinge häufiger getrennt aufwuchsen als heute. Auswertungen dieser Daten zeigen, daß das Gewicht (und folglich auch Übergewicht) bis zu 80 % genetisch beeinflußt ist und die Umweltumstände nur eine begrenzte Rolle spielen. Dabei gibt es allerdings nicht das eine Gen, welches dick macht.
Ein aktuelles Forschungsprojekt hat in verschiedenen Menschen und Tieren über 1.700 Genorte festgestellt, die mit dem Gewicht in Zusammenhang stehen (und auch interessante Überschneidungen zwischen Menschen und Tieren gefunden). Außerdem gibt es noch die Interaktion zwischen Genen und Umwelt, die Epigenetik. Diese befasst sich damit, wie frühe Außeneinflüsse, zum Beispiel frühkindliche Traumata, die Chromosomen verändern können und damit die zukünftige Entwicklung eines Menschen mitbestimmen. Im Zusammenhang mit dem Gewicht scheint es, als würden Kinder, die im Mutterleib signalisiert bekommen, daß Nahrung knapp ist, später zu Übergewicht neigen – möglicherweise weil der gesamte Stoffwechsel frühzeitig geprägt wird und damit auf reichhaltige Nahrung im weiteren Leben anders reagiert – nämlich mit Übergewicht.
Tröstliche Erkenntnis für all jene, die mit ihrem Gewicht unzufrieden sind, und auch jene, die abends lieber Fernsehschauen als noch drei Stunden auf dem Laufband zu schwitzen. Andererseits ein weiteres Beispiel dafür, wie wenig wir eigentlich über uns selbst und die Grenzen unserer Möglichkeiten wissen.