Vor einiger Zeit war ich für Recherchen in historische Archiven. Ich habe durch statistische Jahrbücher von 1920 und parlamentarische Berichte geblättert, ehrfürchtig die Akten des Auswärtigen Amtes um 1900 befingert und viele Meter Mikrofilm gesichtet. Das war in vieler Hinsicht aufschlußreich. Die antiquierten Formulierungen und Floskeln waren eine Freude; die darin hübsch verpackte Bigotterie hingegen ein Graus. Natürlich war mir auch schon vorher bewußt, wie anders der damalige Standpunkt gegenüber fremden, fernen Ländern und ihren Einwohnern war, aber die Akten haben einen sehr unmittelbaren und ungefilterten Eindruck davon vermittelt, wie egozentrisch das damalige Weltbild und Wertegefüge waren, sogar in intellektuellen, wissenschaftlichen Kreisen.
Man würde gerne glauben, daß diese Zeiten lange passé sind, aber ein kritischer Blick auf die heutige Forschung zeigt, daß das mitnichten der Fall ist: wissenschaftliche Forschung ist hochgradig industrieland-zentristisch – aber den Forschern war das lange Zeit nicht bewußt. Einer der Grundsteine sozialwissenschaftlicher Forschung ist das “dictator game” oder auch “ultimatum game”, ein Experiment, das Aufschluß über menschliche Maßstäbe von Fairness und deren Durchsetzung geben soll. Im ersten Schritt wird dabei einer Person ein bestimmter Geldbetrag zur Verfügung gestellt, von dem die Person einen beliebig großen oder kleinen Teil einer zweiten, ihr unbekannten Person abgeben soll – was zeigt, wie die Person über Fairness, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, und Teilen denkt. In einer Erweiterung des Spiels bekommt die zweite Person die Möglichkeit, das Angebot abzulehnen, in welchem Fall beide Personen gar nichts erhalten – es wird also die Möglichkeit eingebaut, als unfair wahrgenommenes Verhalten zu bestrafen, wenn man dafür auf seinen eigenen Anteil (wie klein der auch sein mag) verzichtet.
Der durchschnittliche Deutsche, Brite, Italiener oder Amerikaner, den man dieses Spiel spielen läßt, bietet ungefähr eine Teilung des Geldbetrags 50:50 an, vielleicht auch 60 für sich, 40 für den anderen – er weiß nämlich, der durchschnittliche deutsche, italienische oder amerkanische Mitspieler ist durchaus willens, als unfair wahrgenommene Angebote zu sanktionieren. Das, so dachte man lange Zeit, sei halt typisch menschlich, entwicklungsbiologisch geprägt, gewissermaßen eine der Grundkonstanten menschlichen Verhaltens. Bis ein Doktorand dasselbe Experiment mit Amazonasindianern in Peru durchführte und feststellte, daß dort der erste Spieler keinerlei Anlaß sah, ein Geschenk mit anderen zu teilen – und der zweite ebenso dachte und den Egoismus keineswegs abstrafte, sondern auch die kleinsten Beträge gutwillig akzeptierte.
In anderen Gesellschaften wiederum mit ausgepägter Geschenk- und Teilkultur wurden sehr hohe Angebote gemacht, und dann vom zweiten Spieler abgelehnt, möglicherweise, weil dabei automatisch die zukünftige Schuld bzw. Verpflichtung mitschwingt, der man lieber entgehen möchte – selbst wenn das Spiel anonym ist. Das zumindest ist ein gemeinsamer Nenner vieler Kulturen: solche Verhaltensweise sitzen offenbar so tief, daß sie auch be anonymen, einmaligen Spielen funktionieren. Um den offensichtlich eklatanten Unterschieden auf den Grund zu gehen, ging der Doktorand mit seinem Experiment (und verbesserter Finanzierung post-Dissertation) auf Weltreise, und versuchte, herauszufinden, woher die Unterschiede stammen.
Im Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen und je nach Integration einer ethnischen oder gesellschaftlichen Gruppe stellte sich heraus, daß die Anhänger der großen Weltreligionen (Christen, Muslime, Juden) offenbar sehr viel eher westliche Vorstellungen von Fairness und Bestrafung an den Tag legen. Vor allem aber scheint es auch einen deutlichen Zusammenhang mit der Globalisierung zu geben: je intensiver Völker miteinander handeln, desto ausgeprägter Fairness und Bestrafung. Möglicherweise also bildete sich diese ganz spezielle Vorstellung von Fairness über Jahrhunderte in Europa heraus, wo es mit zunehmender wirtschaftlicher Interaktion nach der eher vom Faust- und Gewohnheitsrecht geprägten Epoche des Mittelalters immer sinnvoller wurde, auch länder- und nationenübergreifend im Umgang mit Fremden ein gewisses Maß an Fairness an den Tag zu legen.
Möglicherweise haben also wir spezielle Vorstellungen – und nicht der Rest der Welt? Es gibt nur wenige Studien, bei denen Europäer und Amerikaner mit einer nennenswerten Anzahl anderer Kulturen verglichen werden, aber die Ergebnisse sind frappierend, sogar bei ganz grundlegenden Dingen. Zum Beispiel erliegen Europäer im Allgemeinen (und Amerikaner im Besonderen und am meisten) der Müller-Lynn Illusion, daß zwei gleichlange Striche mit unterschiedlichen Pfeilen an den Enden unterschiedlich lang seien. Den getestens afrikanischen Stämmen hingege passierte das nicht – vermutlich weil sie nicht in viereckigen, geschlossenen Räumen aufwachsen und sich die Wahrnehmung dabei anders entwickelt. Solche Unterschiede scheint es auch in Sprachen zu geben: in vielen westlichen Sprachen werden Objekte im Raum als links und rechts klassifiziert, was sehr häufig eine subektive (buchstäblich “ego-zentrische”) Einordnung ist, während in anderen Sprachen bei kleinen Kulturvölkern räumliche Zuordnungen häufiger mit vor, hinter, westlich, oder östlich beschrieben werden.
Insgesamt zeigen viele Puzzleteile sozialwissenschaftlicher Forschung, daß westliche Kulturen sich in vielen Dimensionen von Kulturen in Afrika, Asien und Lateinamerika unterscheiden: wir sind sehr analytisch, Objekte werden eher individuell als im Kontext ihres Umfelds wahrgenommen. Wir haben allerdings eher abstrakte Vorstellungen unseres natürliche Lebensraumes, und das spiegelt sich auch in kognitiven Test wider – von denen viele eben gerade unsere Maßstäbe messen. Würden unsere Intelligentests Punkte für unsere Wahrnehmungsschwächen (z.B. der oben genannten Müller-Lynn Illusion) abziehen, sähe die Datenlagen zum Thema Intelligenzforschung möglicherweise auch anders aus. Möglicherweise sind also nicht die anderen alle etwas rückständig und dumm im Vergleich zu uns, sondern wir nicht nur im Akronym – western, educated, industrialized, rich and democratic (WEIRD) – sondern buchstäblich sonder-bar.
Statt dessen jedoch: 68 % der Teilnehmer von Studien in psychologischen Journals kommen aus den USA und ganze 96 % aus westlichen Industrieländern – deren Bevölkerung jedoch nur 12 % der Weltbevölkerung darstellt. Der offensichtlichste Grund liegt natürlich darin, daß die meisten wissenschaftlichen Autoren ihre Studienteilnehmer aus dem eigenen Kulturkreis rekrutieren, das ist nicht nur naheliegend, sondern auch einfacher und günstiger. Trotz Globalisierung, Computern, Datenverarbeitung, billigen Flügen und ganz ohne schwarze Flecken auf den Landkarten, scheint es dennoch immer noch schwierig, solche Hürden für die Forschung zu überwinden. Immerhin: zumindest die Volkwirtschaft ist sich der Tatsache bewußt, daß das naheliegendste Studiensubjekt (der Bachelorstudent der VWL an der eigenen Uni) wenig repräsentativ ist. Hinzu kommen moralische Probleme damit, Studienteilnehmer in armen Ländern als Versuchskaninchen für Studien zu nutzen, ebenso wie die Kosten, Teilnehmer gegebenenfalls zu entlohnen, und das Studiendesign unter Umständen auf die fremde Kultur maßzuschneidern. In ähnlichen Studien in Afrika ist offenbar eine beliebte Aufgabe, die Teilnehmer gegen Entlohnung Bohnen sortieren zu lassen – was sich für uns absurd und sinnfrei anhört, vor Ort aber in manchen Regionen eine ordentlichen, übliche, und entlohnte Tätigkeit in der Nahrungsmittelverarbeitung.
Eine Rolle mag auch spielen, daß die Evaluierung von Unterschieden zwischen Ethnien und sozialen Guppen mittels quantitativer Methoden in mancher Hinsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts desavouiert wurde, und daher bis heute bei Anthropologen und Ethnographen eher unbeliebt ist – während Ökonomen (siehe das obige Beispiel) sich darauf eher einlassen.
Bedenkenswert ist jedenfalls die Erkenntnis, wie sehr menschliches Verhalten kulturell geprägt ist – und daß die meisten sozialwissenschaftlichen Studien nur Aufschluß über die studierte kulturelle Gruppe geben, nicht aber über die Menschen an sich. Übrigens ist auf diesen Trugschluß sogar auch die medizinische Forschung hereingefallen: erste Studien mit bildgebenden Verfahren zu neuronalen Prozessen im Gehirn, zu frühkindlicher Entwicklung, oder auch aus der Psycholinguistik zeigen ebenfalls, daß andere Kulturen anders ticken. Aber das ist ein anderes, weites Feld.