Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Nur netzpolitische Nullnummern

Bei der Bundestagswahl hat das Netz mit seinen Themen und Anliegen praktisch keine Rolle gespielt. Entsprechend macht sich bei den Vorbetern der Netzgemeinde jetzt Katerstimmung breit.

Die Kampfansage ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Liebe Netzgemeinde“, so schrieb der CDU-Bundestagsabgeordnete Ansgar Heveling Anfang 2012 im „Handelsblatt“, „Ihr werdet den Kampf verlieren. (…)Und das Web 2.0 wird bald Geschichte sein. Es stellt sich nur die Frage, wie viel digitales Blut bis dahin vergossen wird.“ Diese Kriegserklärung, die laut ihrem Verfasser frischen Schwung in die Urheberrechtsdebatte bringen sollte, verhallte nicht ungehört: Mit seinem Beitrag entfachte der Unionspolitiker aus dem niederrheinischen Korschenbroich ein regelrechtes Fäkalgewitter (oder wie man auf Netzdeutsch sagt: einen Shitstorm) im Netz. Seine Website wurde gehackt, und bei Twitter, Facebook & Co ergossen sich kübelweise Häme und Hass auf den vermeintlichen Internet-Ausdrucker.

Und heute? Der Jurist und Schützenbruder hat am vergangenen Sonntag seinen Wahlkreis Krefeld I Neuss II mit fast 50 Prozent der Stimmen souverän verteidigt und somit seinen Sitz im nächsten Bundestag sicher. Und nichts deutet darauf hin, dass Hevelings zwischenzeitliche Konfrontation mit dem Netz seinen Gewinn des Direktmandats auch nur im Geringsten gefährdet hätte. Damit spiegeln die Verhältnisse im Wahlkreis 110 in gewisser Weise im Kleinen, was man auch für den Gesamtausgang der Bundestagswahl festhalten kann: Das Netz mit seinen Themen und spezifischen Befindlichkeiten hat bei dieser Wahl keine nennenswerte Rolle gespielt. Dabei hatte es an Reizthemen nicht gefehlt, ziemlich umstritten war beispielsweise die von der schwarz-gelben Bundesregierung durchgepeitschte Verabschiedung des Leistungsschutzrechts zugunsten der Presseverlage. Und dann kam noch der größte anzunehmende Überwachungsskandal durch US-amerikanische Dienste, den ein externer NSA-Mitarbeiter mit seinen Enthüllungen aufdeckte. Doch nichts von alledem hatte auch nur den geringsten Effekt auf das Wahlergebnis, konstatiert Michael Seemann, Internet-Erklärer und einst auch Blogger im Dienste dieser Zeitung: „Unsere Diskurse, unsere Belange, unsere Sicht auf die Welt kam bei dieser Wahl nicht vor, nicht im Geringsten. Vermutlich hatte der Deutsche Ruderverein einen größeren Impact auf diese Wahl als die Netzgemeinde.“

© FAZ 

Damit sieht Seemann auch die Netzpolitik im Sinne des Versuchs, aus dem Netz heraus die Interessen seiner Nutzer zu vertreten und zu organisieren, am toten Punkt angelangt. So weitergehen wie bisher werde es wohl nicht, jetzt müssten eingehende Analysen stattfinden. Richtig ist: Proteste aus dem Netz hatten geholfen, die unsinnigen Netzsperren und sogar das internationale Handelsabkommen ACTA zu verhindern. Es gründeten sich internet-orientierte Interessensvertretungen wie die Digitale Gesellschaft des netzpolitik.org-Gründers Markus Beckedahl und der SPD-nahe Expertenzirkel D 64. Die Piraten, die sich Netzthemen prominent auf die Fahnen geschrieben hatten, zogen in mehrere Länderparlamente ein und wurden von den Demoskopen auf Bundesebene in der Sonntagsfrage zwischenzeitlich bei zweistelligen Prozentzahlen gesehen. Entsprechend konnten manche Fürbittenvorleser und Teilzeitmessner der Netzgemeinde zwischenzeitlich kaum noch laufen vor lauter Kraft und Selbstgewissheit, qua mobiler Flatrate, Twitter-Followerschaft und anderen Formen der Vernetzung auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Wie auch nicht: Die Enthüllungs-Plattform Wikileaks verhieß neues Zeitalter der Transparenz, im sogenannten arabischen Frühling vernetzten und verabredeten sich Demonstranten über Facebook und andere soziale Netze – und schafften es in mehreren Ländern, die autokratischen Regimes zum Teufel zu jagen. Und berauschten sich in der Folge nicht auch unsere einheimischen TCP/IP-Topchecker, Twitteure und Twitteusen an dem Gefühl, jeder kritische Tweet wäre ein Tritt in die Hinterteile der Mächtigen, und all die bitterbösen Blogbeiträge würden sich die Kritisierten hinter den Spiegel stecken? „Würde man die publizierten Blogbeiträge und Kolumnen ausdrucken, die in den vergangen fünf bis sieben Jahren im deutschsprachigen Netz die Nachlässigkeiten und Versäumnisse anprangerten, dann würde der so entstehende Stapel wahrscheinlich von hier bis zum Mond reichen. Vielleicht auch zurück“, spottet Martin Weigert in seinem Businessblog netzwertig.com. In krasser Diskrepanz zu diesem massiven Einsatz stehe aber der Ertrag: Denn augenscheinlich reichten ja auch fünf oder mehr Jahre des nachdrücklichen Nörgelns nicht aus, um bei Volksvertretern und anderen einflussreichen Lenkern dieses Landes ein signifikantes Umdenken zu erreichen.

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Wer weiß, vielleicht würde weniger Dauergenörgel, wer jetzt alles wieder das Internet nicht verstanden hat, ja tatsächlich mehr bewirken. Wenn die Netzpolitik, die sich hauptsächlich des Instruments der gepfefferten Senfspende zur Interessensvertretung der Internetbewohner bediente, an einem toten Punkt angekommen ist, was wäre denn dann mit einem Neuanfang unter anderem Vorzeichen groß zu verlieren? Auf alle Fälle wäre es notwendig, sich der Filterblasen-Effekte bewusster zu werden, welche die selektive Vernetzung mit Menschen, die ähnlich ticken und ähnliche Interessen verfolgen wie man selbst, mit sich bringt. Es ist nicht lange her, da musste man sich als Medienmacher von den digitalen Vorturnern im Kollegenkreis anhören, gehet hin zu Twitter, da spielt die Musik, und wer sich da nicht einklinkt, der verpasse die Zukunft, sei nicht am Puls der Öffentlichkeit. Aber nicht zuletzt die Bundestagswahl hat wieder einmal gezeigt: Repräsentativ für die Stimmung in diesem Lande ist das Gezwitscher auf Twitter und in den anderen sozialen Netzen nicht mal ansatzweise: „Da melden sich zuhauf die Motzkis der Republik, da sind AfD-Wähler ebenso überproportional vertreten wie die Anhänger der Piraten und bestimmen die Tonlage. Rechtsaußen gegen Linksaußen“, schreibt FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld. Man möchte ergänzen: Eine Wahlprognose, die sich vor allem auf das im Netz erzeugte Stimmungsbild gestützt hätte, wäre wohl meilenweit danebengelegen. Und am dichtesten dran am Endergebnis waren – ganz oldschool-uncool – RTL und Forsa. Ohne Big Data, hashtag-Analysen und Like-Button-Zählungen, nur mit dem traditionellen empirischen Instrumentarium der Meinungsforschung, gestützt auf möglichst repräsentative Stichproben.

„In den Netzwerken schweigen die Wähler“, konstatiert Hanfeld, aber vielleicht muss man nicht gleich eine Schweigespirale 2.0 konstruieren, um die disproportionalen Wahrnehmungen im Netz und außerhalb zu erklären. Ein Beispiel: Wenn der netzbekannte Spartenfernsehunterhalter Mario Sixtus ein Foto aus der Wahlkabine mit den beiden Kreuzchen auf seinem Wahlzettel über Instagram und Twitter verbreitet, erzeugt das über Retweets, Links und andere Erwähnungen ein beachtliches Echo im Netz, dessen Stimmengewirr beim unkritischen Betrachter den Eindruck einer ganz schönen Welle hervorruft. Aber bei der Auszählung, da wo es drauf ankommt, zählt der vielbeachtete Wahlzettel von Sixtus auch nicht mehr als der von Oma Karsuppke, die sich von ihrem Altenpfleger ins Wahllokal schieben lässt und keine Riesenwelle im Netz veranstaltet. Vielleicht muss man sich einfach ab und zu mal ausklinken aus dieser elektronischen Echokammer, um sich dessen wieder bewusster zu werden.

Bild 1: Screenshot von instagram.com