Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Komm, wir tauschen Treuekarten!

Wenn ich im kleinen Supermarkt an der Kasse hinter einem Menschen stehe, der seine Pfennigartikel mit Kredit- oder EC-Karte bezahlt, werde ich unruhig. Und das sollte er auch – aus anderen Gründen.

Man hat in den letzten Monaten einiges über Algorithmen gelesen, die uns klassifizieren, in gute und schlechte Kunden einteilen, die über Kreditwürdigkeit und Telefonverträge entscheiden, und dies aufgrund der Analysen verfügbarer Daten. Sie bestimmen die Kreditwürdigkeit meines Nachbarn oder versuchen, aus dem gegenwärtigen Einkaufsverhalten von Kunden ihre zukünftigen Bedürfnisse abzuleiten. Ein Beispiel, das in den letzten Monaten die beunruhigend erscheinende Macht jener Algorithmen verdeutlich hat, spielte sich – natürlich – in den Vereinigten Staaten ab.

Target, ein Betreiber großer Einkaufszentren analysiert das Einkaufsverhalten seiner Kunden wie viele Einzelhändler auf der ganzen Welt, indem er die an der Kasse bezahlten Waren der einzelnen Kunden speichert. Das Vorgehen ist dabei recht einfach: Ein Kunde weist sich an der Kasse durch seine Kundenkarte aus, über die er vielleicht außerdem Prämienpunkte sammelt, die ihm das anschließende Einlösen dieser Punkte in Prämien gestattet oder einen prozentualen Preisnachlass bringt. Alle nachfolgend (oder vorher) auf das Band gelegten Waren werden mit dem individuellen Kundenkonto verknüpft. Die sich daraus ergebende Historie der Einkäufe und mögliche Änderungen im Einkaufsverhalten der Kunden können analysiert und interpretiert werden.

Der Einzelhandelskonzern kann mit Hilfe der Analyse dieser erhobenen Daten beispielsweise Voraussagen treffen, ob ein bestimmter Kunde – oder besser: eine bestimmte Kundin – schwanger ist. Mit der Zusendung entsprechender Werbeunterlagen kann es gelingen, werdende und junge Eltern für mehrere Jahre an eigene Läden zu binden: ,,Kaufen sie erst einmal Windeln, kaufen sie irgendwann alles bei uns.” Um diese Käufergruppe zu erreichen, muss man deshalb bei der Zusendung entsprechender Werbebroschüren schneller sein als die Konkurrenz: Die Datenanalysen von Target erlauben eine zuverlässige Identifikation Schwangerer bereits während des zweiten Schwangerschaftsdrittels.

In Minneapolis betrat ein wütender Vater eine Target-Filiale und beschwerte sich beim Manager, ob der Target durch die Zusendung von Prospekten mit Schwangerschaftskleidung und Kinderzimmereinrichtung versuchen würde, seine noch die Highschool besuchende Tochter aufzumuntern, schwanger zu werden? Wenige Tage später räumte er ein Gespräch mit der Tochter ein und ihre Beichte und bestätigte das Ergebnis der Target-Vorhersage. Der Manager rief gerade beim Vater an, um sich für die als belästigend empfundene Werbung zu entschuldigen.

Die Qualität der Analysen und der Vorhersagen steht und fällt mit den Algorithmen und der Menge und der Qualität der Rohdaten, die einem Individuum zugeordnet werden können. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die oben beschriebene Qualität der Vorhersagen nicht die Ausnahme bleibt, sondern zur Regel wird, sobald sich mehrere Unternehmen zusammenschließen und ihre Daten bezüglich der einzelnen Kunden und Nutzer austauschen oder gemeinsam analysieren; Target verknüpft die eigenen Daten bereits heute mit zugekauften Informationen wie dem Familienstand seiner Kunden, deren Bonität und der Historie der von ihnen besuchten Webseiten. Ein Gedankenspiel dieser Art stellt der bereits 2004 erschienene Kurzfilm Google EPIC dar. Die Autoren greifen die Bedenken gegenüber der Datenanalyse durch große Konzerne im Internet auf, die ihr Wissen verknüpfen und durch Beeinflussung der medialen Realität einige Macht über die einzelnen Nutzern ausüben (können). Schon heute muss eine Webseite als nicht existent gelten, wenn sie nicht im Index von Google aufgenommen oder in den Suchergebnissen angezeigt wird.

Große Unternehmen und Serviceanbieter, bei denen viele Internetnutzer ein (Kunden)Konto besitzen, analysieren das Nutzerverhalten im Netz weit über die eigene Webseite hinaus. Dies funktioniert unter anderem über das Tracking mit Hilfe von Cookies und Social Media Buttons, jenen Knöpfen, die Websurfern ermöglichen, die aktuell besuchte Seite mit Gefällt mir zu markieren oder direkt in der eigenen Timeline zu veröffentlichen. Der Code für diese Buttons wird direkt von den Betreibern geladen, zum Beispiel von Facebook. Dadurch weiß der Anbieter, auf welcher Webseite sich der einzelne Nutzer – der vielleicht in einem anderen Browsertab gerade mit seinem Facebook-Profil angemeldet ist – aufhält, er weiß, welche Webseiten der Nutzer in der Vergangenheit besucht hat und gewinnt damit ein umfassendes Bild. Das gleiche funktioniert mit Werbeanzeigen, sie nennen es Predictive Behavioral Targeting.

Für den Nutzer bedeutet dies, dass er – nach einer Zeitspanne, die der Algorithmus zum Lernen benötigt – keine für ihn uninteressanten Werbeanzeigen mehr angezeigt bekommt. Der Anzeigenprovider registriert kontinuierlich, auf welche Anzeigen der Anwender klickt und er registriert, in welchem Kontext (auf welcher Webseite) das Werbebanner angezeigt wird. Er merkt, wenn der Anwender auf die Werbeanzeige eines Sportwagens klickt, die auf den Seiten zweier Automobilmagazine angezeigt wird und auf die Anzeige eines Abführmittels, die in einem Medizinforum angezeigt wird. Der Werbeanbieter weiß auch: Schweigepflicht gilt nur für wenige Berufsgruppen.

Also?

Wer auf individuell zugeschnittene Werbung verzichten kann, dem bieten Browser-Plugins wie Ghostery die Möglichkeit, das Tracking mit Hilfe von Cookies zu verhindern. Kreativer und deutlich aufwändiger ist der Austausch von Cookies mit anderen Nutzern, mit denen sich darüber hinaus auch Treue- und Payback-Karten austauschen lassen, um dennoch in den Genuss der in den Bonusprogrammen versprochenen Prämien und Preisnachlässe zu kommen. Beides führt zu einer ,,Verschmutzung” der Daten: Die Webseitenbesuche bzw. die Einkäufe werden einem einzelnen Kundenkonto zugeordnet, doch falls hinter diesem Konto mehrere verschiedene Individuen stehen mit unterschiedlichen Surf- und Einkaufsverhalten, funktioniert das Tracking zwar noch, die Datenanalyse jedoch bringt verfälschte Ergebnisse und verschlechtert damit die Qualität der Vorhersage – insbesondere wenn das System aus bereits aufgezeichneten Daten lernt und versucht, in ihnen autonom neue Muster zu erkennen, die es zukünftig bei der Datenanalyse berücksichtigt.

Die Ergebnisse jener Analysen, denen komplexe Algorithmen zu Grunde liegen, sind gerade so gut wie der Entwurf ebenjener und wie die Qualität der zu analysierenden Daten. Die heutigen Möglichkeiten sind beeindruckend. Während mich vor ein paar Jahren bereits erstaunte, dass eine Bank die Kreditkarte eines Freundes sperrte, weil über diese innerhalb weniger Minuten zwei Transaktionen an mehrere einhundert Kilometern voneinander entfernten Orten getätigt wurden,  deutet die Target-Geschiche an, wohin die Entwicklung geht.

In Oslo, vor einigen Jahren, ging ich mit einem Freund in eine Bar. Er kannte den Barkeeper flüchtig, drückte ihm seine Kreditkarte in die Hand und einige Stunden später gab sie dieser, als wir die Bar wieder verließen, zurück. So feiert und so zahlt man in Norwegen. Gibt es eigentlich Kreditkarten, die von einem Institut herausgegeben werden, das seinen Sitz in einem Land hat, in dem strenge Regeln für den Datenschutz existieren? Ich frage für einen Freund und all jene, die hier im Supermarkt mit Kreditkarte zahlen.