Die Polizei hat ein Problem mit den sozialen Medien. Das Problem sieht in etwa so aus:
„Die letzten drei Tage in Garmisch-Partenkirchen zeigten auch, dass die von einigen Medien und Sicherheitsbehörden herbeigeredeten „Gewaltorgien“ jeder Realität widersprechen.“
Über Monate hinweg wurde auf einschlägigen Seiten für gewalttätige Aktionen in Elmau geworben. „Nehmen wir alle in Frankfurt gemachten Erfahrungen mit nach Elmau, stechen wir erneut ins Herz der Bestie“, findet man bei der Roten Aktion Anfang April. In Bezug auf die Ausschreitungen bei der Eröffnung der EZB fordert das Revolutionäre Bündnis: „Blockupy war nur der Anfang: Den G7 Gipfel stürmen“, und weiter im Video voller Gewalt „Auch wir werden zum Gipfel fahren…auch wir sind vorbereitet“. Von einem Gewaltverzicht will man dort natürlich nicht reden, lieber spricht man mit der Süddeutschen Zeitung über die Gewalt der Staaten. In der Woche vor dem Gipfel rühmen sich „Revolutionäre“ eines Anschlags in Nürnberg und fordern „Zeigen wir den Herrschenden und den Repressionsbehörden, dass Sie überall mit uns rechnen müssen und greifen wir sie auf allen Ebenen mit allen Mitteln an!“ Darunter verlinkt jemand einen Beitrag des an den Gipfelprotesten beteiligten Kollektivs Crimethinc, in dem es wörtlich heisst:
„Deshalb mag es zwar manchmal sogar nötig sein Polizist_innen anzuzünden, allerdings sollte dies nicht in einem Anflug von rachsüchtiger Selbstgerechtigkeit geschehen, sondern von einem Standpunkt der Fürsorge und des Mitgefühls aus – wenn auch nicht für die Polizei, dann wenigstens für alle, die sonst unter ihnen zu leiden hätten.“
Das sollte man zur Beurteilung wissen, wenn in einem Blog eine Beschwerde gegen die Exekutive laut wird, mit dem Satz „Die letzten drei Tage in Garmisch-Partenkirchen zeigten auch, dass die von einigen Medien und Sicherheitsbehörden herbeigeredeten „Gewaltorgien“ jeder Realität widersprechen.“.
Dieses relativierende Blog – es heisst „Publikative.org“ – verantwortet laut Impressum die Amadeu Antonio Stiftung, die von Anetta Kahane geleitet wird, der man wiederum kein zu allen Zeiten durchgehend negatives Verhältnis zu Sicherheitsbehörden nachsagen kann, um es mal freundlich zu formulieren. Gründer der Website ist der auch beim NDR arbeitende Journalist Patrick Gensing, der nach eigenen Worten früher „antifamässig“ unterwegs war. Autoren des Blogs besuchen oft Demonstrationen und berichten dort betont demonstrantenfreundlich, und sehen die Provokation eher bei der Polizei. Beiträge des Blogs werden über Facebook und Twitter verbreitet, und wenn man sich mal die Arbeit der Stiftung etwas genauer anschaut, findet man auch dort bei Nebenprojekten Beispiele, die gut zur einseitigen Einstellung von Publikative passen: Im Dossier zum Thema Rassismus, das sich an Jugendliche wendet, wird auch die Polizei als Träger des institutionalisierten Rassismus vorgeführt, und ein Leitfaden geliefert, wie man sich am besten bei „rassistischen Polizeikontrollen“ verhält – unterstützt vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Eigentlich hat die Stiftung einen Ruf – und Fördermittel – zu verlieren, aber das hier mag als Beispiel genügen, welche unterschiedlichen Akteure in den sozialen Medien von der gezielten Gewalttat, vom „Polizisten anzünden“ und den Krawallen bis zur pauschalen Ansehensschädigung in der Mitte der Gesellschaft tätig sind, wo die Polizisten dann als fragwürdige Figuren ausgerichtet werden, die die Gewalt selbst herbeireden oder gar rassistisch ausüben sollen. Wie weit in diesem Punkt die bei manchen angesehene Stiftung, die Rote Aktion und die bei der Vorbereitung der G7-Proteste beteiligten Vertreter von Crimethinc auseinander liegen, mag jeder selbst beurteilen.
Antifamässig unterwegs, so nennt man das wohl in den Kreisen von Patrick Gensing. Das ist in etwa der Mainstream im Netz. Mögen klassische Medien auch so unverschämt zu Veranstaltern sein, bei Demonstrationen die Polizeizahlen zu veröffentlichen und damit den Erfolg der Bewegungen zu schmälern: Im Netz geben seit gut anderthalb Jahrzehnten die anderen, die mit der richtigen Einstellung den Ton an. Das begann bei den Protesten gegen die FPÖ/ÖVP-Koalition des Jahres 2000 in Wien, wo man sich mit SMS ad hoc absprach, setzte sich in den Iran, zu den G7-Protesten und zu Occupy fort, erlebte im Arabischen Frühling trotz abgeschalteter Netze eine grosse Blüte, und heute gibt es kaum eine grössere Demonstration ohne Hashtag mehr. Niemand muss mehr auf die mühsam getippten Pressemitteilungen der Polizei warten. Das Material kommt direkt von den Beteiligten selbst, Medien greifen mitunter gern zu, und die Gruppen stellen es genau zu diesem Zweck her. Bis die Polizei verbreitet, dass sie mit Brandflaschen angegriffen wurde, haben im Netz schon Hunderte wegen Unterdrückung und Repression der Staatsgewalt aufgeschrien.
So war das bisher. Bei der G7-Konferenz in Elmau hatte die Polizei ein eigenes Twitterteam.
Möglicherweise war das mit eine der besten Investitionen des ganzen Gipfels, denn der Verfasser dieses Beitrags, der den Münchner Kessel aus eigener Ansicht kennt und im Taxöldener Forst gerannt ist, weiss sehr genau, was Streibl beim G7-Gipfel Anno 92 mit dem Spruch meinte, hartes Hinlangen sei bayerische Art. Im Gegensatz dazu ist der Polizeiaccount nachgerade liebevoll, wenn er die Trommeln und die Stimmung des letzten Tages vermisst, den Demonstranten besseres Wetter wünscht, oder allen Gästen eine gute Heimreise. Joval bittet er um Entknoten von Seitentransparenten und wird auch auf englisch und italienisch deutlich, wenn es zu Übergriffen kommt, und dankt für den friedlichen Ablauf. Ansonsten ist er eine wirklich angenehme Ergänzung zum wütenden Geifern des offiziellen Protestaccounts. Es ist schwer, ihn im direkten Vergleich nicht sympathisch zu finden, selbst wenn man weiss, dass es sich dabei um PR und Kampf um die Deutungshoheit im Netz handelt.
Und wer immer das gemacht hat, war erfahren und hat sich vorher überlegt, was er da tut. Penetrant freundliche Okkupation populärer Hashtags, nette Bilder, die die menschliche Seite zeigen, eine Abschlusskonferenz auf Periscope, direkte Ansprachen der Demonstranten, schnelle Erklärungen, wenn Demonstrationen stillstehen, freundliche Bitten an die Demoleitung, noch bevor die Konkurrenz den nächsten Slogan ins Netz hämmert: Irgendwer hat seit den Tagen von Franz Josef selig begriffen, dass es klüger ist zu reden und darin besser zu sein, als Netze abzuschalten und zu schweigen. Da fällt es den angereisten Aktivisten natürlich deutlich schwerer, einen Feind in der ersten Runde zu entmenschlichen und dann andere zu animieren, sich einem konfliktbereiten Vorgehen anzuschliessen. Es kommt auch noch der Bus für alle, um Probleme zu besprechen, und als das Protestcamp kurz vor der Überflutung stand, hat die Polizei natürlich auch ihre Hilfe angekündigt. Das ist einerseits nett, aber andererseits nervt es natürlich jene, die früher ungestört die Hegemonie in der Feindbeschreibung hatten.
Nun ist das angesichts der realen Verhältnisse im katholischen Garmisch natürlich nur noch die schwarze Kirsche auf der konservativ-bayerischen Torte, die Streicheleinheit der Repression, wenn man so will – die eigentlichen Probleme entstehen dort, wo die Polizei nicht durch ihre Präsenz schon lang im Vorfeld die Reiselust der Autonomen begrenzt. In Berlin ist die Lage der Ordnungskräfte eher schlecht und angesichts der Mentalität vieler Bewohner – man denke etwa an die dort logierenden Mitarbeiter und Tränengaslyriker der Amadeu Antonio Stiftung und den Twitternutzer Volker Beck – auch nicht immer von vollstem Verständnis geprägt. Der Autonome reist von Garmisch heim an die Spree und freut sich vielleicht schon auf neue Garstigkeiten. Leider läuft dort mal wieder der 24-Stunden-Livebericht der Polizeieinsatzzentrale. Vor einer Arztpraxis lauert ein Wildschwein mit Frischlingen, ein Fahrraddieb wird erwischt, eine Frau randaliert bei ihrem Exfreund, Dealer belästigen Passanten, Alltag bei prekären Lebensformen, genderneutrale Auseinandersetzungen passieren – was halt so in einem Moloch an Tätlichkeiten anfällt, für die man gezwungen ist, die Polizei zu rufen. Niemand ist deshalb gezwungen, die Tweets der Polizei zu verbreiten. Aber es wird gemacht. Auch Leute, die der Staatsmacht eher fern stehen, tun das. Das ist nicht gerade solidarisch für jene, die in der Staatsmacht den Feind sehen. Aber die Polizei kommt mit all den Absurditäten, die sie zu berichten hat, gut an, und wird gelobt. Und hat über 60.000 Follower
Da fehlt irgendwo ein Kind? Die Polizei fährt hin. Da ist ein verletztesTier? Der Wagen ist unterwegs. Kinder und Tiere gehen immer, und nach so einem Tag bei Twitter wissen viele, warum eine Polizei wirklich nötig ist. Weniger wissen vermutlich, warum man einen Gewalttäter verharmlosenden Beitrag von Publikative, die Gewalttäter selbst und eine staatlich geförderte Website braucht, die der Polizei institutionalisierten Rassismus vorwirft.
Man kann nicht berechnen, was ein besseres Verständnis zwischen den ihr Grundrecht in Anspruch nehmenden Demonstranten, sonstigen Bürgern und ihrer Polizei letztlich bringt, was es schon verhindern mag, bevor es dazu kommt, und wie sich das zum nicht zu beziffernden „Nutzen“ der Vorratsdatenspeicherung verhält. Die Inhaber der bisherigen Deutungshoheit im Netz jedenfalls reagieren unerfreut.
Eventuell ist ihnen klar geworden, wie schwer es in Zukunft wird, gegen den Retter eines Igels oder eine Polizistin mit Herz sogar in den eigenen Kreisen mit dem Aufruf zum Anzünden zu mobilisieren. ACAB: All Communists Are Bewildered.