Glauben Sie bloss nicht, dass mir das Spass macht.
Wir hatten in der Migrationsdebatte eine gefälschte Kostengraphik. Wir hatten die Oktoberfestlüge. Wir hatten eine Bilderlüge. Dinge, die immer mal passieren können, wenn übereifrige Aktivisten unseriöse Quellen wie Internetbildchen oder die taz als glaubwürdig betrachten – andere glauben auch dem, was beim Kopp-Verlag steht. Wir alle machen Fehler. Aber manchmal kann man sich wirklich nur wundern. Wie über den Mediendienst Integration.
Dieser Mediendienst bringt nach Eigendarstellung Zahlen und Fakten zur Einwanderung, und pustete heute diesen Beitrag ins Netz und die sozialen Medien.
Die Frage, wer die meisten Flüchtlinge aufnimmt, wird innerhalb Europa sehr überraschend beantwortet: Deutschland liegt zwar, was die Gesamtzahl von 477.000 Asylanträgen im letzten Jahr angeht, klar vorne. Dann folgt aber schon Ungarn mit 177.000 Anträgen, und auf Platz vier Österreich mit 88.000. So steht es bei Eurostats. Der Mediendienst Integration rechnet jetzt die Zahl der Asylanträge auf die Bevölkerung um, und, Potztausend:
Ausgerechnet Ungarn, der Prügelknabe Europas unter dem verrufenen Autokraten Viktor Orban – ausgerechnet dieses Ungarn hat mehr als drei mal so viele Asylbewerber als Deutschland pro tausend Einwohner. Ungarn steht damit dem Mediendienst zufolge natürlich an der glorreichen Spitze der humanitären Leistungsbereitschaft. Viktor Orban und nicht Angela Merkel ist der König der Willkommenskultur. Die Zahlen müssen echt sein, sie stammen ja von Eurostats.
Und sind ohne Kontext.
Der Kontext sieht so aus: Schon im vorletzten Jahr blieben von den offiziell 42.000 Antragstellern in Ungarn nur 535 im Land. Schon damals hielt sich die Regierung Orban an die Dublin-III-Verordnung und registrierte die Flüchtlinge auf der Balkanroute beim Erreichen des Schengenraumes. Wer hier aufgegriffen wurde, musste in diesem Land Asyl beantragen. Das haben die Flüchtlinge bis ins letzte Jahr zwangsweise getan – die allermeisten haben ihre Papiere dann weggeworfen und sind mit Schleppern weiter nach Mitteleuropa. Erst die Aufhebung von Recht und Gesetz durch Angela Merkel im Spätsommer des letzten Jahres versprach den in Ungarn festsitzenden und noch nicht registrierten Flüchtlingen, dass sie nach Deutschland weiter reisen konnten. Flüchtlinge, die in Ungarn bereits einen Asylantrag gestellt hatten, würden auch nicht zurückgeschoben werden. In den kommenden Wochen leerten sich dann mit tätiger Mithilfe der ungarischen Behörden die Flüchtlingslager in Ungarn. Das heisst: Ungarn hat zwar, wie es die Abkommen verlangen, 177.000 Anträge entgegen genommen – aber die Menschen dahinter sind längst weiter gezogen. Sogar jetzt, da Ungarn wieder unter Druck gerät, sind etliche tausend registrierte Asylbewerber erneut abgewandert. Für die Verbleibenden denkt Ungarn über kaum bewachte Lager an der leicht überwindbaren Grenze zu Österreich nach. Dabei handelt es sich aber nur um ein paar tausend – und keinesfalls 177.000.
Die Zahlen aus Österreich dürften stimmen. Ich habe mir das selbst in Graz und Spielfeld angeschaut: Die Migranten waren dort nur ganz kurz auf österreichischem Boden, wurden darüber aufgeklärt, dass sie hier Asyl beantragen konnten, wurden dann sofort im System als Schutzsuchende registriert – wer nicht wollte, wurde direkt weiter zur Grenze nach Deutschland gebracht.
An der deutschen Grenze gab es Kapazitäten für wenige tausend Registrierungen pro Tag. Die meisten Flüchtlinge gelangten von September bis Dezember ohne jede Feststellung der Personalien oft mit Sonderzügen ins Land, und wurden dann erst auf die Erstaufnahmelager verteilt und registriert. Bis sie dann überhaupt erst einen Antrag auf Asyl stellen können, vergehen Wochen und Monate. Die 477.000 Anträge, die an Eurostats gemeldet wurden, sind kein Ausdruck real in Deutschland lebender Migranten, die auf Asyl hoffen – deren Zahl kennt wegen des Kontrollverlusts niemand – sondern Ausdruck des Staatsversagens und des katastrophalen Antragstaus im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Wir haben also, wenn wir den Kontext betrachten, in Österreich eine Zahl, bei der Anträge und Flüchtlinge halbwegs übereinstimmen. Und zwei Zahlen, bei denen das definitiv nicht der Fall ist – weshalb man sie auch nicht auf die Bevölkerung umrechnen und ein Ranking erstellen kann, Das sollte jedem klar sein, der etwas Ahnung von der Thematik hat oder wenigstens googeln kann. Das steht alles im Netz. Im Netz sind aber auch vom Staat reichlich privilegierte Organisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung, die diese Statistiklügen eifrig beklatscht.
Auch ein Journalist vom Spiegel feiert das mitsamt der hübschen Graphik ab. Graphiken sind toll. Niemand hat die Absicht, eine Graphik zu fälschen, schon gar kein Mediendienst.
Damit wird das Ding viral und landet bei Simon Hurtz, seines Zeichens aktivistenfreundlicher Autor bei Sueddeutsche.de, der ZEIT und dem medienkritischen – sic – Bildblog.
Auch Rechtsanwälte spielen mit und verbreiten kräftig:
Auch Leute, die ich eigentlich als kluge und reflektierte Zeitgenossen kennen gelernt habe, leiten das an mich weiter, und wundern sich überhaupt nicht, dass ausgerechnet Ungarn – die Mutter aller Grenzzäune – die humanitäre Grossmacht Europas sein soll. Sie sind damit leider in schlechter Gesellschaft, denn nach 7 Stunden ist diese Meldung auch zu ZEIT Online gelangt – mit dieser Überschrift.
Ich geh mal kurz weinen
Amüsantes Detail: Verfasser des Berichts beim Mediendienst Integration – gefördert unter anderem durch die Integrationsbeauftragte des Bundes – ist ein gewisser Fabio Ghelli. Ein Fabio Ghelli verfasst bei der ZEIT auch sporadisch Beiträge über die Migrationskrise.
Wissen Sie, als Journalist ist man eigentlich vorsichtig, wenn man das Wort “Mediendienst“ liest. Mediendienste sind eigentlich immer euphemistische Umschreibungen für PR-Büros, die Medien Informationen anbieten, die leicht zu einem Artikel zu verarbeiten sind, und dabei den Spin des Auftraggebers mitliefern. Der Auftraggeber hier wollte offensichtlich ausdrücken, dass es doch gar nicht so viele Flüchtlinge sind und Deutschland weit, weit hinter anderen kleineren und ärmeren Nationen zurück liegt. Wenn die das schaffen, schaffen wir das auch.
Beim Mediendienst Integration ist im Hintergrund der “Rat für Migration“, ein eingetragener Verein von Wissenschaftlern, die sich mit dem Thema beschäftigen und Migration klar befürworten und verteidigen. Eine Lobbyorganisation. Das ist natürlich berechtigt, aber die Art, wie ihre PR-Abteilung Statistiken zurecht lügt, lässt doch erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Ethik im Kampf um die Meinungsführerschaft zu. Man kann das schon machen und kommt damit auch in die ZEIT – aber schon dort scheitert man an aufmerksamen Kommentatoren, die nicht so leichtgläubig wie die Journalisten sind.
Und wenn man damit auffliegt, füttert man die medienkritischen Vorurteile von AfD und PEGIDA. Die werden ein paar Minuten nach meiner Veröffentlichung auch selbst darauf stossen, dass der Mediendienst einen prominent besetzten Fachbeirat hat.
Unterstützt wird der Mediendienst Integration durch einen Fachbeirat. Dabei handelt es sich um Journalisten und Experten, die beraten, das Vorhaben kritisch begleiten und ihren Informationsbedarf äußern.
Vom ZDF ist die nicht unumstrittene Morgenmagazin-Moderatorin Dunja Hayali dabei, der Frauke Petry massive Vorhaltungen macht.
Deshalb: Glauben Sie bloss nicht, dass es mir Spass macht, bei meiner Arbeit solche Munition für Verschwörungstheorien zu liefern. Machen Sie bitte nicht den gleichen Fehler wie der Mediendienst, den Kontext zu ignorieren. PR-Leute brauchen keine Journalisten von FAZ, ZDF oder ZEIT als Anstifter, um Fehler zu machen, und man kann sehr wohl in Beiräten sitzen, und integer arbeiten. Was immer “integer” in unserer dunkelgrauen Schattenwelt auch heissen mag. Denken Sie selbst, trauen Sie keinem.
NACHTRAG: Mit diesem Tweet versucht der Mediendienst Integration jetzt, seine eigene Zahlenanalyse zu relativieren:
Zu dumm, dass sie gestern die konkrete Behauptung, Deutschland stünde bei der Aufnahme von Asylbewerbern im Verhältnis zur Grösse in Europa nur auf Platz sechs, selbst ins Netz getragen haben: