Constantin Seibt wird bei dem Schweizer Tagesanzeiger als “Reporter Recherche“ geführt. In der Folge der Anschläge von Brüssel schrieb er am 25. März einen im Internet weit verbreiteten Beitrag über die statistischen Gefahren für das Leben, und den überzogenen Umgang der Medien mit Terror. Darin stehen durchaus bedenkenswerte Sätze wie
Was tun? Eigentlich nur eines: Die Polizei ihre Arbeit machen lassen. Und sonst Haltung bewahren: also die eigenen Prinzipien, kühles Blut, Freundlichkeit. Das genügt. Denn das eigentliche Ziel der Attentäter sind nicht Flughäfen oder Metrostationen, sondern die Köpfe. Ihr Ziel ist der Verlust an Haltung.
Verbreitet wird der Text aber nicht nur wegen der durchaus rationalen und durchdachten Kritik an der Öffentlichkeit, die dem Terror zusätzlich in die Hände spielt. Was Netznutzer – und hier namentlich die Befürworter der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel – begeistert, ist die “catchy“ Einleitung, die versucht, die Zahlen der Toten durch Terrorismus in Relation zu setzen:
Betrachtet man die Statistiken, ist der islamistische Terrorismus in Europa erstaunlich erfolglos.
Seibt führt das in seinem Beitrag so aus:
Die wichtigste Lehre aus den Attentaten in Brüssel ist, las man: Es kann jeden von uns treffen, überall, jederzeit. Sicher. Nur ist die Wahrscheinlichkeit verschwindend klein. Seit dem World-Trade-Center-Attentat 2001 ermordeten islamistische Attentäter in Westeuropa und den USA etwa 450 Menschen. So grausam jeder dieser Morde ist, es gibt Gefährlicheres. Allein in Deutschland sterben pro Jahr über 500 Leute an einer Fischgräte.
Was diese Aussage völlig ausser Acht lässt – und mich offen gesagt betroffen macht – ist die mangelnde Bereitschaft, sich mit den praktischen Folgen von Terror auseinander zu setzen. Wer wirklich über Terror arbeitet, der weiss auch, dass es mit dem Zählen der Toten nicht vorbei ist. Speziell Nagelbomben wie in Brüssel haben eine vielfach höhere Zahl von Verletzten zur Folge, und für viele ist das gute Leben danach für immer vorbei. Sie sind behindert, traumatisiert und entstellt, und von einem Redakteur Recherche würde man schon erwarten, dass er in diesem Kontext die schockierenden Berichte zur Splitterwirkung kennt, egal ob aus Israel, vom Oktoberfestattentat, aus London oder dem Irak. Man muss dazu nicht in der 2. Intifada gewesen sein: Eine simple Bildersuche “Victim Nail Bomb“ würde vielleicht solche Einleitungen verhindern. Aber das zählt für Seibt einfach nicht.
Aber auch der ganze Gedankengang ist verstörend: Niemand im Journalismus käme hoffentlich auf die Idee, der türkisch- und griechischstämmigen Gemeinschaft in Deutschland vorzurechnen, dass die Gefahren durch den NSU statistisch gesehen viel kleiner als die des Rauchens oder des Fahrverhaltens im Strassenverkehr sind – selbst wenn das statistisch belegbar wäre. Die Unvergleichbarkeit von kaltblütigem Massenmord und Unfall gehört nämlich auch zu den Werten, von denen Seibt schreibt, “unsere gesamte Zivilisation wurde auf ihnen gebaut“. So einen Vergleich würde man nach dem Bekanntwerden des NSU allenfalls auf einer Naziseite erwarten. Irgendwie ist es aber völlig in Ordnung, wenn sich der Mord durch die gleiche Art Extremismus gegen die westliche Gesellschaft richtet. Der Beitrag wird dennoch entsprechend verbreitet, etwa von Dieter Janacek, MdB und wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen.
Oder Felix Werdermann, Politikredakteur beim Freitag:
Catrin Bialek, Redakteurin beim Handelsblatt:
Michael Karnitschnig, Büroleiter von EU-Kommissar Johannes Hahn:
Und natürlich freut sich der Tagesanzeiger:
wenn der Aktivist “i’m hacking public affairs strategies for the good guys “ Florian Schweitzer schreibt:
Bioforelle. “Je suis Brüssel” ist offensichtlich vorbei.
Neben der moralischen Dimension gibt es noch ein anderes Problem: Die angebliche Statistik ist eine glatte Erfindung.
Das statistische Bundesamt sammelt die Zahlen der Todesfälle in Deutschland. Verantwortlich dafür ist Silvia Stelo, und sie hat den Blick in die Statistik, den man Constantin Seibt zufolge haben sollte. Ich habe dort nachgefragt, und der Blick zeigt Erstaunliches:
Es gibt gar keine Statistik über die Todesfälle durch Fischgräten.
Das wird als Ursache gar nicht abgefragt. Was es dagegen gibt, ist ein Punkt, der alle Toten zusammenfasst, die generell durch die orale Aufnahme von Fremdkörpern zu Tode kommen, egal ob Spielzeug, Korken, Steine, zu grosse Bissen oder Bestandteile von welchen Speisen auch immer, der sogenannte Bolustod: 568 waren es insgesamt 2014, 453 im Jahr 2013, und nur ein kleiner Bruchteil davon geht auf Fischgräten zurück. Es wird keine Statistik erstellt, derzufolge jedes Jahr 500 Menschen durch Fischgräten sterben, und es kann sie auch nicht geben, denn die Zahl gibt es nicht. Die Zahl von Constantin Seibt findet sich dagegen ab und zu in schrägen Internetquellen. Eigentlich müsste sie jeden Leser sofort stutzig machen: Stehen eigentlich täglich Rettungswägen vor Fischrestaurants?
Aber so eine scheinwissenschaftliche Statistikbehauptung ist sehr plastisch und passt natürlich nur zu gut in die Agenda, islamistischen Terror zu verharmlosen, oder sich darüber zu mokieren – weshalb sie auch als alleinstehendes Argument bei Twitter benutzt wird. Etwa von Claus Hecking, Redakteur bei der ZEIT, dessen Aussage mir in die Timeline gekippt und Anlass zu meinem Unglauben wurde:
Mike Beckers, Redakteur bei der Wissenschaftszeitschrift Spektrum:
Dunja Hayali, Aktivistin, Journalistin und Moderatorin beim ZDF, mit 110 Retweets, darunter haufenweise weitere Journalisten:
Thomas Leidel von N-TV:
Maik Nöcker, Moderator bei SKY:
die TV-Kabarettisten Gebrüder Moped:
Für solche Ausrutscher kann Seibt natürlich nichts. Sie alle verbreiten das und sorgen dafür, dass die angebliche Statistik von Constantin Seibt weiter der Relativierung von Terrorismus und seiner Opfer dient. Das sind nicht irgendwelche kruden Verschwörungstheoretiker aus rechten Schmuddelblogs, denen Medien gern mal – und zu Recht – ihre Rechercheabteilung hinterher arbeiten lassen. Die Statistik verbreiten diejenigen, die wirklich darüber entscheiden, was in Deutschland als Wahrheit verkauft wird. Auch über sie kann man mit Seibt sagen, ihr eigentliches Ziel sind die Köpfe. Speziell das ZDF hat da schon einschlägige Oktoberfestlügenerfahrung.
Fürchte Dich nicht, sagt Seibt. Glaube nicht, traue keinem, sage ich.