Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Kein Festnetz unter dieser Nummer

Der Ton in den Briefen der Telekom an ihre Festnetz-Kunden ist freundlich, aber bestimmt: Man baue das Kommunikationsnetz der Zukunft und eröffne den Kunden mannigfaltige neue Möglichkeiten. Weil aber bestehende Verträge nicht ohne Einverständnis des Kunden geändert werden dürften, sehe sich der Anbieter gezwungen, diese zu kündigen, um sein umfassendes Modernisierungsvorhaben umsetzen zu können. Man möge sich umgehend im Borgwürfel einfinden mit dem Anbieter in Verbindung setzen, um eine bestmögliche Lösung zu finden.

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Eine Lösung für ein Problem, das der Endkunde (no pun intended) zumeist nicht als solches empfindet. Das alte analoge Festnetz-Telefon ist wie sein jüngeres digitales Geschwisterchen ISDN eine bewährte und nahezu idiotensichere Technik. Woher also der Leidensdruck beim Rechtsnachfolger der Reichspost-Fernmeldeabteilung? Man ahnt es: die Rendite. Früher™ konnte der Monopolist sich den Luxus leisten, unterschiedliche Fernsprech-, Fernschreiber- und Datennetze zu unterhalten. Jetzt ist Internet und Datenverkehr das große Ding, und das alte Telefonnetz mit seiner eigenen Stromversorgung ist zu einer betriebswirtschaftlichen Bürde geworden. Das Zauberwort der Fernsprechzukunft (und vielfach auch schon Gegenwart) heißt Voice over IP (VoIP): Zwischen Teilnehmer A und B ist keine permanente Punkt-zu-Punkt-Verbindung mehr notwendig, das Gespräch wird wie jeder andere Datenverkehr im Internet beidseitig in kleine Datenpakete zerlegt, die sich selbständig ihren Weg zum Empfänger suchen und dort wieder zu einem verständlichen Ganzen zusammengesetzt werden.

Wer über seinen Anschluss nur telefoniert, braucht keinen neuen Vertrag, die Umstellung erfolgt in der Vermittlungsstelle. Aber wer über die Telekom analog telefoniert und auf der gleichen Leitung einen DSL-Anschluss hat, wird über kurz oder lang gekündigt und muss einen neuen Vertrag abschließen, wenn er nicht abgeklemmt bleiben will. Auch private und gewerbliche ISDN-Anschlüsse sind ein Auslaufmodell. Bis 2018 sollen sämtliche Telekom-Anschlüsse auf VoIP umgestellt sein. Nach ursprünglichen Planungen war 2016 als Stichjahr angepeilt, aber Cheops Gesetz (alles dauert länger als geplant und kostet mehr als gedacht) hat sich auch bei diesem Mammutprojekt wieder einmal bewahrheitet. Die Klagen von Kunden über technische Probleme nach der Umstellung reißen auch nicht ab, plötzlich abbrechende Verbindungen und Geisterklingeln sind nicht ungewöhnlich, die Signalqualität ist erheblichen Schwankungen unterworfen, auch wenn die Telekom beteuert, die Akustik wäre mit VoIP besser geworden.

Einer der großen Schwachpunkte der IP-Telefonie ist das Fehlen einer eigenen Notstrom-Speisung, wie sie das analoge Telefonnetz und ISDN haben. Die Folge: Bei Stromausfall und DSL-Störung bleibt auch das Telefon tot. Dagegen hilft auch kein Notstrom-Aggregat im eigenen Keller, wenn die örtliche Vermittlungsstelle keine unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV) hat. Tatsächlich sind längst nicht alle Vermittlungsstellen mit USV abgesichert, aber eventuell können Servicemitarbeiter mit mobilen Batterie-Koffern den Betrieb eine Weile lang aufrecht erhalten. Andernfalls möge der Kunde einfach das Handy benutzen für den Notruf. Wobei es bei größeren Ausfällen, die auch Mobilfunkmasten betreffen können, überhaupt nicht garantiert ist, dass das Handy funktioniert. Mit einem Wechsel zu einem der Wettbewerber ist der Endkunde aber auch nicht aller Sorgen ledig, die Telekom-Konkurrenten bieten durch die Bank auch nur noch VoIP-Anschlüsse an.

Damit vollzieht die Technik eine Entwicklung nach, die sich kulturell schon länger abgezeichnet hat: Der „elektronische Selbstwähl-Fernsprechdienst“, wie die Telefonie im Postlerdeutsch offziell hieß, ist zu einer wenig bedeutenden Nebenstrecke der digitalen Datenautobahn heruntergestuft worden. Die Ehrfurcht, die noch im Elternhause dem grauen Wählscheiben-Apparat entgegengebracht wurde, fanden wir in jungen Jahren schon leicht befremdlich. Einige meiner Freunde waren technisch versiert, einer installierte einen illegalen Zweitapparat (parallelgeschaltet) in die zweite Etage in seinem Elternhaus, andere Kumpels kommunizierten in den frühen 80ern schon über Computer-Mailboxen, die per Akustikkoppler (vulgo: Datenklo) übers Telefonnetz verbunden wurden. Was für mächtigen Ärger mit der Bundespost sorgte, derlei Treiben wurde damals noch als Verstoß gegen das Fernmeldeanlagengesetz geahndet. Es war ja vor der großen Deregulierung im Fernmeldewesen noch nicht mal erlaubt, den Apparat selber aus der verschraubten AS-4-Anschlussbuchse auszustöpseln.

Für die Elterngeneration war das Telefonklingeln noch ein unbedingter Imperativ, das Gespräch anzunehmen, auch wenn kein Display die Nummer des Anrufers anzeigte. Vielleicht ist Tante Erna etwas passiert oder es winkt ein Gewinn der ARD-Fernsehlotterie, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden – indem man den Hörer abhebt. Wir hingegen kamen auf den Dreh, dass ein Anrufbeantworter auch dann gute Dienste leisten kann, wenn wir eigentlich in Reichweite sind. Erst mal hören, ob‘s was wichtiges ist. Und wie der Dichterfürst Max Goldt mal kategorisch festgestellt hat: Eine Nachricht auf dem  Anrufbeantworter verpflichtet keineswegs zu einem Rückruf.

Ein nicht geringer Teil des telefonischen Kulturwandels geht auf das Konto der mobilen Kommunikation. Mit der zunehmenden Verbreitung von Handys ist zwar die telefonische Erreichbarkeit prinzipiell größer geworden. Aber gleichzeitig hat man sich angewöhnt, eher eine SMS zu schreiben als anzurufen. In den USA werden über das mobile Endgerät mittlerweile fünfmal mehr Textnachrichten geschrieben als Anrufe getätigt, und hierzulande wird das nicht viel anders aussehen. Es wächst das Bewusstsein dafür, dass ein Telefonanruf ein Eindringen in die Privatsphäre darstellt. Timothy Noah, der im US-Magazin „Slate“ bereits den Tod des Telefons ausgerufen hat, fragt sich im privaten Kontext vor einem Anruf sinngemäß, habe ich die Person, die ich anrufen möchte, schon mal nackt gesehen? Und im geschäftlichen Kontext: Waren wir schon mal zusammen beim Lunch? Falls nicht, ruft er im Zweifelsfall lieber nicht an. Oder er rechnet damit, erst eine Nachricht hinterlassen zu müssen und dann irgendwie in die Terminfindung für ein Gespräch einzusteigen.

Ich selber stelle im journalistischen Alltag auch fest, dass ein Anruf als erstes Mittel der Kontaktaufnahme und der Recherche längst nicht mehr so normal ist wie noch vor 20 Jahren. Wie oft höre ich dann: „Ach, schreiben Sie mit Ihre Fragen doch bitte per Mail!“ Was ja auch seine Vorteile hat, denn was man schwarz auf weiß besitzt, ist ja im Zweifelsfall weniger strittig als ein dahingesagter Satz am Telefon, den ich nicht mitgeschnitten habe.

Wenn ich aus dem Kommunikationsverhalten meiner Tochter (11) auf die Zukunft des Festnetztelefons schließen muss, dann sieht es für diesen Kanal eher mau aus. Signorina Settembrini skypt, chattet, mailt und whatsappt, was das Zeug hält. Aber wenn die Zielperson in den Kontakten aktuell nicht als „ist online“ markiert ist, dann ist sie halt nicht erreichbar, glaubt Töchterlein. Auf die Idee, da mal anzurufen, käme sie selber nicht, wenn man sie nicht explizit auf diese Möglichkeit hinweist. Aber fairerweise muss ich auch sagen: Es haben auch nicht alle Eltern eine Festnetznummer in der Klassenliste angegeben.

So weit ist es schon gekommen.