Ich brauchte nur etwas Stoff für ein Kissen – und wurde Zeuge eines Erziehungsdebakels. Denn beim Raumausstatter M., der in der dummen, kleinen Stadt an der Donau die bayerische Ohd Foläh mit den letzten Schreien der Inneneinrichtungsmode versorgt und daher als Kulturbringer gelten kann, steht ein grosses Biedermeiersofa am Schaufenster, mit vielen Kissen. Und darauf lümmelten zwei Mädchen und starrten in ihre Mobiltelefone. Und dahinter, am Schalter, legte der M. Stoffbahnen aus und machte den Eltern Vorschläge. Es ging um nicht weniger als das komplette Wohnzimmer, um die Abstimmung von Tapeten und Textilien, und während ich mich ein wenig unter den rotsamtenen Brokatstoffen umsah, rief die Mutter, die Töchter sollten doch jetzt auch endlich mal herschauen und mitreden. Man mache das ja auch wegen ihnen.
Ich wollte etwas sagen, aber das wäre erstens nicht höflich gewesen und zweitens ist mir eingefallen, dass ich daraus ein Geschäft machen kann, wenn ich dort den Mund halte und das, was ich sagen wollte, nicht nur zwei Eltern sage, denen meine Weisheit als alter, weisser Mann auch nicht weiterhilft. Und statt dessen hier niederschreibe und so den Brokatstoff – der laufende Meter, halten Sie sich fest. 230 Euro – refinanziere. Weil, prinzipiell ist es doch so: Solange junge Menschen früher die Füsse unter den Tisch ihrer Eltern streckten, durften sie gar nicht mitreden, sondern nur sprechen, wenn sie gefragt wurden. Die absonderliche Idee, man müsste Menschen vor Erreichen der Volljährigkeit in alle Entscheidungen des Lebens mit einbeziehen, ist relativ neu. Ich war vermutlich die erste Generation, die wirklich schon im Kindesalter bei Urlaub, Möbeln und Auto mitreden durfte. Und ich und meine Schwester, wir haben da wirklich verhängnisvolle Fehlentscheidungen getroffen.
Zum Beispiel, dass mein Vater jahrelang zu todseriösen Geschäftstreffen in einem signalgrünen Audi 100 fahren musste. Das haben wir verbrochen. Der Deal war, dass meine Eltern das Modell aussuchen und wir die Farbe. Es gibt heute wieder Porsche 911, die zu Rennzwecken in Signalgrün lackiert werden. Damals war es die mit grossem Abstand ungewöhnlichste Farbe im Repertoire, und ebenso geschmacklos und zielsicher steuerten wir darauf zu und machten Terror und Gezeter, bis unsere Eltern nachgaben. Der Umstand, dass sie ihre Kinder hatten entscheiden lassen, war keine gute Ausrede für die unerfreuliche Folge, dass auf das stilistisch beeindruckende, silberblaue BMW Coupe, das leider nicht sehr kindertauglich war, nun das giftgrüne Monster folgte.
Genauso ungut war die kindliche Entscheidung zu ebenso teuren wie unförmigen Polstermöbeln aus leuchtgrünem Samt, die es wirklich nur damals gab und die heute wieder kommen, weil unsere Gesellschaft nun mal dazu verdammt ist, Fehler zu wiederholen. In der Zeit der Sitzsäcke jedenfalls, die bald platzen und jede Ecke des Hauses mit kleinen Styroporkugeln verschmutzten, entschieden wir Kinder. Deshalb wurden zu einem Preis, zu dem man damals auch alles in echten Rokokomöbeln oder vier mal in Biedermeier einrichten konnte, Dinge erworben, die man heute wohl nur noch in Berliner Werbeagenturen schön finden würde. Es dauerte nicht lange, und die Möbel bekamen wir Kinder, während meine Eltern zum L. gingen und sich Kirschholzsessel fertigen ließen, die heute noch wie neu aussehen. Wie Kinder fanden sie damals hässlich. Heute wundere ich mich, warum meine durch die Museen Europas kulturbeflissenen Eltern ausgerechnet auf die Idee kamen, ihr Leben von Unmündigen beeinflussen zu lassen, deren Kulturverständnis Tom und Jerry eben gerade mal so erreichte.
Eltern jener heute fern scheinenden Epoche wurde damals von Erziehungsforschern geraten, den Nachwuchs von den Verlockungen neuer Medien wie Fernsehen und Langspielplatten fern zu halten, und sie anderweitig zu motivieren, am echten Leben teilzunehmen. Da wirkten wohl ein wenig die 68er mit hinein, die gesehen hatten, zu welchen Untaten alte, weisse Männer fähig waren, wenn man sie auf die Welt losliesss, und dachten, Kinder ohne Geist, Geschmack, strategisches Denken und Impulskontrolle würden irgendetwas besser machen, wenn man ihnen nur die Gelegenheit gibt. Das Debakel in Signalgrün hätte verhindert werden können, wenn man uns vor die Wahl gestellt hätte, ob wir mitfahren wollen, die Autofarbe herauszusuchen, oder daheim vor dem Fernseher liegen bleiben möchten. Meine Eltern dachten, das Signalgrün wäre eben der Preis dafür, dass Kinder auch noch etwas anderes sehen. Dass ich auch so zu einem Snob werden würde, der Fernsehserienbetrachter zutiefst verachtet und Freunden von Dr. Who unterstellt, sie hätten ihr Leben nicht unter Kontrolle, wusste damals kein Erziehungsforscher.
Ich denke, Kinder melden sich schon, wenn ihnen etwas wichtig ist – und zwar lauter und schneller, als es einem lieb sein kann. Wir wären nie auf die Idee gekommen, eine Fahrzeugfarbe zu wählen, wenn man uns das nicht gesagt hätte. Man hat uns eine Unterhaltungsmöglichkeit mit dem TV genommen und eine andere auf Kosten unserer Eltern gegeben. Heute haben Kinder ihre Mobiltelefone immer dabei, füllen ihre Whatsapp-Gruppen und wollen viel lieber über die neuen Kleider ihrer Freundinnen herziehen, als ihren Eltern bei der farblichen Gestaltung der Sofas einreden. Niemand trifft schlechtere Entscheidungen als ein passiv-aggressives Kind, das viel lieber Mitschüler online mobben möchte.
Das ist eben so. Kaum verlassen sie die Schule, zücken sie die Mobeiltelefone. Sie schweigen nicht am Tisch, weil sie zum Schweigen gezwungen werden, sondern weil sie nebenbei weiter texten. Das ist natürlich unhöflich. Aber vermutlich wächst sich das genauso aus wie beim TV-Konsum. Ich bin mir absolut sicher, dass in 40 Jahren Blogeinträge erscheinen werden, in denen sich mittelalte Autorinnen über die katastrophale Inneneinrichtung ihrer Eltern aufregen werden, die nur passieren konnte, weil sie selbst mit dem Handy in der Hand auf einem Sofa nicht genug motiviert wurden, sich an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Denn schuld sind bekanntlich immer die Eltern, egal wie es ausgeht, und daher ist es vermutlich klüger, einfach selbst zu entscheiden und genauso rücksichtslos zu sein. Kinder müssen lernen, Prioritäten zu setzen und sich Freiräume selbst zu erobern. Wenn sie lieber vor dem Handy hängen und texten, entscheiden eben andere. Dann brauchen sie sich nachher nicht beschweren. Auch das ist eine Form von Erziehung.
“Es ist selten ein Schaden, wo kein Nutzen dabei ist”, sagte meine Grossmutter immer, und sie hatte natürlich wie immer recht. Es gibt ständig erhebliche neue Konflikte zwischen Eltern und Kindern, so wie beim Aufkommen von TV, Radio oder Lyrik von Heinrich Heine. Trotz der stets befürchteten Abhängigkeit der Jugend ist es aber vielmehr so, dass die angebotenen Medien in schöner Regelmässigkeit altern, ihren Reiz verlieren und durch andere ersetzt werden – kaum zu glauben, dass manche einmal bei StudiVZ oder AOLChat gewesen sind. Irgendwann setzt die Ernüchterung ein, die Interessen werden auf neue Aspekte des Lebens gelenkt, nicht ganz umsonst werden Malbücher gerade wieder populär. Da lernt man auch den Umgang mit Farben. Und versteht, dass Signalgrün jetzt nicht ganz stilsicher ist. Vielleicht brauchen Kinder einfach den Rückzugsraum auf dem Handy, um den diversen Zumutungen der Erwachsenenwelt zu entgehen, bis sie irgendwann daran Gefallen finden, heiraten, selbst Kinder bekommen und sich auch wieder beschweren, dass die borniert dreinschauenden Töchter jetzt nicht sofort, hört ihr, sofort herkommen und mitreden, denn für wen macht man das denn hier, wo der Stoff so teuer ist? (Es war ein echtes Drama und hat so lang gedauert, dass ich gesagt habe, ich müsste noch dringend etwas schreiben und käme am Montag noch mal vorbei.)