Deus ex Machina

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Datenreichtum und Kritik: Böll-Stiftung nimmt Onlinepranger Agentin vom Netz

Kritik gab es genug: Selbst feministische Kommentatorinnen von Spiegel Online über SZ bis zur Zeit beschlich beim Betrachten des Onlineprangers “Agentin.org” ein mulmiges Gefühl. Unter Leitung einer dreiköpfigen Redaktion hatte das Gunda Werner Institut der grünennahen Böll-Stiftung ein Wiki erstellt, in dem von ihr identifizierte Gegner der Genderideologie denunziert und in einem Kontext bis hin zu eindeutigen Rechtsextremisten dargestellt wurden. Dabei traf es nicht nur knallharte Reaktionäre oder Lebensschützer, sondern auch den liberalen Journalisten Harald Martenstein, den stets diskussionsfreudigen Blogger Hadmut Danisch, und auch absolute Randfiguren von regionalen Vereinen, die eine abweichende Meinung zur Familienpolitik vertraten. Für bekannte Journalisten wie Jan Fleischhauer (Spiegel), Volker Zastrow (FAZ) und Ulf Poschardt (Welt) waren schon leere Seiten angelegt. Ungeachtet dessen versuchte der Projektteilnehmer Andreas Kemper, das Projekt vom Verdacht des Prangers freizusprechen.

Da hatte sich aber schon gezeigt, dass die Mitarbeit beim Wiki bei weitem nicht so anonym und sicher war, wie es seitens der Verantwortlichen eigentlich geplant war: Der Autor dieser Zeilen konnte zeigen, dass man mit einer einfachen Suchabfrage, deren Funktion das Team der Böll-Stiftung offensichtlich nicht durchdacht hatte, eine Liste von Autoren des Systems ausspielen kann. Der Verfasser warnte nach einer Diskussion mit Fachleuten den Projektleiter Henning von Bargen umgehend in einer Mail und öffentlich bei Twitter davor, das Wiki in der aktuellen Form weiter zu betreiben: Die Sicherheitsexperten hatten sich den Quellcode angeschaut und nach wenigen Minuten weitere schwere Lücken im System erkannt. Ein “Hack” des Wikis war dazu gar nicht nötig – schon mit einer für Wikipedianer einfachen Spielerei bei den URLs war es möglich, auf fast alle Informationen zur Entstehung des Wikis zuzugreifen, die lediglich schlecht versteckt, aber dennoch sperrangelweit offen im Internet standen. Sogar ein (nicht freigeschalteter) Kommentar dieses Blogs hatten die grösste und fatale Lücke erkannt und benannt.

Zuerst blieb eine Reaktion seitens der vorab gewarnten Betreiber aus. In dieser Zeit herrschte dem Vernehmen nach auf dem Server der Stiftung Hochbetrieb: Mehrere Betroffene des Wikis sollen sich nach vorliegenden Informationen ihre eigenen “Akten” beschafft haben, und denken jetzt über eine juristische Verwendung gegen Kemper und den Verantwortlichen nach. Das Problem für die Stiftung: In den früheren Versionen der Beiträge wurden unter dem Nutzernamen ”Andreas Kemper” Versionen erstellt, die eindeutige und wenig freundliche Tatsachenbehauptungen enthielten.

Teilweise wurden prominente Beiträge wie über den Schweizer Journalisten Roger Köppel von weiteren Autoren verschärft – Autoren, deren Name bislang auch durch den FAZ-Bericht noch nicht bekannt war. Offensichtlich hatte sich ein Spezialist unter dem Namen “Schopenhauer” mindestens zwei von Kemper Anfang 2016 erstellte Beiträge über Schweizer, darunter den von Köppel, im Frühjahr 2016 noch einmal vorgenommen, und sie zusätzlich angespitzt.

Erst etwa im März 2017 setzte dann eine Phase des grossen Umdenkens und der Korrekturen ein. Umfangreiches, vorliegendes Material zeigt deutlich, wie ein Autor “Gruen” sprachliche Unzulänglichkeiten verbesserte, während “Gruen”zusammen mit “Anna Berlin” und “Agentin2” Kempers anfänglich klare Zuweisungen der Betroffenen zu rechten Ideologien abschwächten. Formulierungen wie etwa “ist ein nationalkonservativer, antifeministischer Autor” wurden hin zu “scheint dem Nationalkonservatismus und Antifeminismus nahe zu stehen” geändert.

Ausserdem bemüht man sich um einen sachlicheren Ton in den Fällen, in denen Kemper seiner privaten Sicht zu sehr freien Lauf gelassen hat.

Diese Korrekturen betreffen viele Beiträge und dauerten bis kurz vor der Veröffentlichung des Wikis an – offensichtlich haben das Institut und seine Aktivisten viele Arbeitstage investiert, um das Wiki zu füllen und juristisch schwerer angreifbar zu machen, auch wenn die Zielrichtung der Gesinnungsdatenbank erhalten blieb. Aus Tatsachenbehauptungen machten die Redakteure Verdächtigungen, Meinungen und Vermutungen – ihr Pech, dass die früheren Versionen trotzdem frei auf dem Server unter ihrer presserechtlichen Verantwortung lagen.

Gestern Abend hat dieser Autor mit der Veröffentlichung erster Details aus der angeblich geschützten Versionsgeschichte bei Twitter begonnen, und auf das Leak hingewiesen. Heute setzte bei Agentin ein Umdenken ein: Kurz und bündig erklärte Agentin.org bei Twitter, das Projekt ginge vorübergehend offline. Damit folgt es dem “Neue Rechte”-Prangerwiki der Amadeu-Antonio-Stiftung, das nach einer Veröffentlichung und folgenden Problemen mit den darin Genannten ebenfalls vom Netz genommen wurde, und nie wieder kam.

Allerdings ist das Projekt der Böll-Stiftung ungleich größer: Dem Verfasser vorliegende Seiten zeigen nicht nur, dass die Hauptseite des Wikis schon am 15. Dezember 2015 erstellt wurde, sondern “Andreas Kemper” in langer und weit über tausend Änderungen umfassender Arbeit zwischen dem 4. Januar und Mitte April 2016 fast alle Kategorien und Beiträge des Wikis anlegte.

Das alles entstand in so kurzer Zeit und in teilweise alphabetischer Reihenfolge, so dass umfangreiche Vorarbeiten in den aufgeführten Bereichen existiert haben müssen.

Weiterhin belegen vorliegende Materialen, wie Kemper nach getaner Anfangsarbeit viele Artikel zu Stubs erklärte, deren fertige Ausarbeitung mit Links und Verweisen weitgehend von einem kleinen Kreis anderer Personen übernommen wurde.

Die angeblich 180 “ehrenamtlich arbeitenden” Mitglieder von Agentin, die auf der Website die vorläufige Schliessung mitteilen und versprechen, erweitert und verständlicher wieder zu kommen, sind zumindest im Datenreichtum nicht erkennbar – dort dominiert klar Andreas Kemper.


Ausserdem wurde bei der Sichtung des erstaunlichen Datenreichtums deutlich, dass der zentrale Bereich mit der Vorstellung der Ziele und Zwecke weniger von Kemper als von “Heinrich Alpin” gestaltet wurde. Nun erklärt Agentin.org: “Für uns bleibt die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung dazu eine Aufgabe, der wir uns stellen.”. Sicherheitsexperten sehen das allerdings kritisch: Dem Vernehmen nach gibt es mindestens einen weiteren schweren Fehler, der jedoch nicht so leicht zu erkennen ist. Aufgrund der bekannten Benutzernamen und der ebenfalls bekannten Login-Seiten betrachten sie das Projekt wörtlich als “total verantwortungslos, unzureichend gesichert und leicht überwindbar” – sogar jetzt kann noch die Login-Maske aufgerufen werden, wenn man eine frühere URL des Wikis im Browser aufruft. Auch mehrten sich in den letzten Tagen diskrete Wortmeldungen von Grünen-Politikern, die für das Projekt als solches und die erneute schlechte Presse im Wahlkampf wenig Verständnis zeigen. Das Gunda Werner Institut zieht sich laut taz auf den Standpunkt zurück, dass es keine grüne Liste sei, “sondern ein unabhängiges Projekt, das von der Stiftung unterstützt wurde“

Das nährt mit der Agentin-Behauptung der angeblich 180 Mitarbeiter den Verdacht, dass der Pranger an sich eine weitaus längere Vorgesichte mit Vernetzungen hat, die je nach weiteren Ungeschicklichkeiten der Verantwortlichen noch aufzuzeigen sind. Gleichzeitig wäre zu prüfen, auf welcher Basis ein vor allem vom Staat finanzierter Verein geldwerte Mittel und Leistungen für ein vollkommen anonym agierendes Projekt unter seiner presserechtlichen Verantwortung weiterleitet – die rechtlichen Aspekte sind hier mindestens so interessant wie die technischen Möglichkeiten des Wikis. Aber selbst eine überarbeitete Version des Wikis würde nichts daran ändern, dass die Vorgeschichte mit über 7000 Beiträgen, Ergänzungen und Änderungen tagelang offen im Netz stand. Sie ist daher nicht nur jenem verschworenen Kreis hinter Agentin.org bekannt, der Aktivistinnen angeboten hat, dort in Anonymität und Sicherheit mitzuarbeiten. Und Datenschutzbeschwerden und  etwaige Abmahnungen wegen eines fehlenden Impressums machen das Denunziantenleben auch nicht schöner.