Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Kurszettel gegen Stimmzettel: Warum Habermas nichts von der Krise versteht

In Europa stehen weniger Demokratie und Ökonomie im Konflikt. Sondern vor allem Mehrheitsdemokratie und Rechtsstaatlichkeit. Von Rainer Hank.

Von Rainer Hank

Nachdem es am vergangenen Dienstag erste Gerüchte über Berlusconis Rücktritt gab, stiegen an der Börse die Kurse. Als Berlusconi dementierte brachen sie ein. Und die Rendite der italienischen Staatsanleihen schoss mit 6,6 Prozent auf den höchsten Stand seit vierzehn Jahren. Obwohl Berlusconi schließlich kapitulierte, gingen die Renditen tags darauf abermals nach oben und lagen deutlich über sieben Prozent. Warum? Weil Berlusconi, der Schelm, nur sagt, dass er geht, aber nicht sagt, wann er geht. Wer einmal lügt, dem glaubt zumindest kein Anleger nicht. Italien muss für seine Schulden einen exorbitant hohen Preis bezahlen. Der Gläubiger sitzt dem Schuldner im Nacken.

Was die versammelten europäischen „Italienkritiker” in den linken (und anderen) Lagern Deutschlands, Österreichs, Frankreichs etc in zehn Jahren nicht hinbekommen haben, schaffen die Märkte in ein paar Monaten. Sie fegen den Machthaber aus dem Amt, ohne freilich dafür von den Berlusconifeinden gepriesen zu werden. Die Waffen der Märkte sind nicht die Stimmzettel, sondern die Kurszettel: Wer nicht spurt, dem schrauben sie den Zins nach oben. Italien ist, wenn wir nichts vergessen haben, mindestens die sechste Regierung Europas, die innerhalb eines guten Jahres vor den Finanzmärkten in die Knie geht und abdankt. In alphabetischer Reichenfolge sind das: Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Slowakei, Spanien.

Jürgen Habermas (Foto: Helmut Fricke)Und was macht die intellektuelle Elite? Sie ruft Zeter und Mordio. Die politische Klasse werde „von den Märkten kujotiniert”, behauptet Jürgen Habermas (Foto: Helmut Fricke) metaphernreich und sieht ein „postdemokratisches” Zeitalter am Himmel heraufziehen. Dabei hat der langjährige Hausphilosoph des deutschen Linksbürgertums noch nicht einmal so unrecht. Weil er aber nicht genau hinschaut, bleibt ihm am Ende auch die Einsicht in den Sachverhalt verstellt.

Tatsächlich stehen Regierungen Europas derzeit unter doppelter Aufsicht. Neben der Abwahldrohung durch ihre Völker (der Umgang damit gehört zum Brot- und Buttergeschäft von Demokraten) gibt es jetzt die Zinsschraube der Gläubiger. Das ist neu; lange Zeit haben die Märkte geschlafen und das Risiko übersehen. Inzwischen steigt der Preis in dem Maße wie die Rückzahlungswilligkeit der Staaten fraglich wird. Staaten nämlich sind nie zahlungsunfähig. Stets können sie sich, auch wenn sie über keine eigene Notenpresse verfügen, Geld besorgen: indem sie Ausgaben kürzen, Einnahmen (Steuern, Gebühren) erhöhen oder Eigentum verhökern. Staatsbankrott bedeutet nicht die Zahlungsunfähigkeit, sondern die Zahlungsunwilligkeit. Stellen Regierungen den Schuldendienst ein, hat der Gläubiger (anders als bei Privatinsolvenzen) keine Sicherheiten. Es sei denn, er würde einmarschieren und Vermögenswerte verpfänden.

Drohung des Volkes und Drohung der Märkte sind meist gegenläufig. Die Griechen verweigern jegliches Austeritätsregime, würden am liebsten weiter Wohlfahrtsparty feiern und die Rechung nach Europa (oder gleich nach Deutschland) schicken: andernfalls drohen Unruhen, Wahlniederlagen und, schlimmstenfalls, Anarchie. Die Gläubiger dagegen wollen Austerität, verlangen, dass die Staaten ihre Ausgaben den Einnahmen anpassen; andernfalls droht die Stangulierung durch den Zinsspread – oder die Demissionierung der Regierung.

Der Konflikt, um den es geht – und den Habermas spürt, ohne ihn zu verstehen – heißt nicht Diktatur des Volkes versus Diktatur der Finanzmärkte, sondern Mehrheitsdemokratie versus Rechtsstaatlichkeit. Demokratien sind, nach einem berühmten Wort des schwedischen Finanzwissenschaftlers Knut Wicksell (1851 bis 1926), nichts anderes als die „Diktatur der zufälligen Mehrheit”. „Wenn einmal die unteren Klassen definitiv in Besitz der gesetzgebenden und steuerbewilligenden Gewalt gelangt sind”, schreibt Wicksel, herrsche die Gefahr, „dass sie ebenso wenig uneigennützig verfahren werden, wie die Klassen, welche bisher die Macht in den Händen hatten, dass sie m.a.W. die Hauptmasse der Steuern den besitzenden Klassen auflegen und dabei vielleicht mit der Bewilligung der Ausgaben, zu deren Bestreitung sie selbst nunmehr nur wenig beitragen, so sorglos und verschwenderisch verfahren, dass das bewegliche Kapital des Landes bald nutzlos vergeudet und damit die Hebel des Fortschritts zerbrochen sein werden.” Können demokratische Mehrheiten ihren Ausgabenhunger mit Steuern nicht mehr befriedigen, weil sie womöglich die Auswanderung der Besitzbürger fürchten, greifen sie in zunehmendem Maße zur Staatsverschuldung. Weil alle demokratischen Wohlfahrtsstaaten so handeln, sind (fast) alle inzwischen überschuldet (gemessen am 60 Prozent Kriterium von Maastricht).

Als Schuldner aber treffen die Staaten nicht auf „anonyme Märkte”, sondern auf konkrete Vertragspartner, hinter denen stets reale Menschen stecken: Wenn sie sich verschulden, ist das nichts anderes als ein privatrechtlicher Vertrag zwischen Schuldnern (Staaten) und Gläubigern (Banken, Privatleuten), bei dem der Preis (Zins) und Rückzahlungsmodalitäten (Tilgung) vereinbart werden. Verträge sind einzuhalten, so lautet ein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Auch demokratische Mehrheiten legitimieren den Vertragsbruch nicht. Wenn Staaten ihre Schulden nicht tilgen oder die Zinszahlungen ab einer bestimmten Höhe verweigern, ist das ein Verstoß gegen einen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der auch durch Mehrheitsbeschluss nicht besser wird.

Mit anderen Worten: Es geht in Europa derzeit auch um einen Konflikt zwischen Mehrheitsdemokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die liberale Tradition Europas – von Locke über Hume bis Lord Acton – hat stets die Demokratie der Rechtsstaatlichkeit nachgeordnet. Doch das Bestrafungspotential der Massen wirkt für Regierungen gefährlicher als die Sanktionsdrohung des Vertragsbruchs. Wo kein Kläger, da kein Richter. Es sind die Märkte, die heute für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit eintreten und diese mit der Zinsschraube (dem Preismechanismus) erzwingen. Dass die Märkte (viel zu spät) wach geworden sind, ist die gute Botschaft und kein Grund, Zeter und Mordio zu rufen. Sie sind das kritische Korrektiv einer hemmungslosen Mehrheitsdemokratie. Genau das ist der Grund, warum die Rettungseuropäer sie in der Krise außer Kraft setzten wollen. Doch darüber nachzudenken, wäre einen neuen Blogbeitrag wert.

 

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