Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Ökonomen in Demut. Oder: Soll Vater Staat Brust-OPs verbieten?

Die Krise hat die Ökonomen beschämt. Auf einem Kongress sprachen sie oft von "neuem Denken". Verhaltensökonomen misstrauen dem Homo oeconomicus und vertrauen stattdessen dem Staat. Der soll den irrenden Menschen einen Schubs zu vernünftigerem Verhalten geben. Andere Ökonomen warnten vor einem Zusammenbruch des Papiergeld-Systems. Von Philip Plickert

Die Krise hat die Ökonomen beschämt. Auf einem Kongress sprachen sie oft von “neuem Denken”. Verhaltensökonomen misstrauen dem Homo oeconomicus und vertrauen stattdessen dem Staat. Der soll den irrenden Menschen einen Schubs zu vernünftigerem Verhalten geben. Andere Ökonomen warnten vor einem Zusammenbruch des Papiergeld-Systems.

Von Philip Plickert

Die Konferenz “Ökonomie neu denken” in Frankfurt hat gestern und heute einige Perlen der Erkenntnis gebracht, manches Alte neu entdeckt und auch Kurioses ergeben. Nach dem Vortag des Verhaltensökonomen Armin Falk (Universität Bonn) stand plötzlich eine FH-Professorin in einem roten Kostüm auf und ereiferte sich: Ihre 18 Jahre alten Studentinnen wollten alle eine Busen-Operation, “und sie kennen auch schon die Preise” – das sei doch ungeheuer. Ob man so was nicht verbieten sollte. Der “sanfte Paternalist” Falk war gar nicht abgeneigt.

Armin Falk - Foto: privatZuvor hatte er über die Forschung gesprochen, die das alte Bild vom rationalen “Homo oeconomicus” systematisch in Frage stellt. Menschen brechen Vorsätze, bereuen Handlungen, sind unsicher und machen Fehler, führte Falk (Foto: Universität Bonn) aus. Daraus folgt für ihn, dass der Staat als “sanfter Paternalist” die Menschen erziehen muss, oder zumindest einen leichten Schubs, einen “Nudge” (so hieß der Bestseller von Richard Thaler und Cass Sunstein), in die “richtige Richtung” gibt. Das geht ganz einfach durch eine geänderte Fragestellung. Zum Beispiel nicht: “Wer will Organe spenden?” (opt in), sondern: “Wer will sie nicht spenden?” (opt out). So werden die Entscheidungen beeinflusst. In Deutschland, wo die Opt-In-Regel gilt, gibt es 12 Prozent Organspender, in Ländern mit Opt-Out-Regel wie Österreich, Belgien, Frankfurt und Ungarn sind es weit über 90 Prozent.

Michael Hüther - Foto: dpaMichael Hüther (Foto: dpa), Direktor des IW, verteidigte auf dem Kongress von Stifterverband und Handelsblatt zwar zunächst den Idealtypus des freiheitsfähigen Menschen auf freien Märkten, doch stellte er sich dann nicht grundsätzlich gegen die Idee des “sanften Paternalismus” durch leichtes Schubsen, etwa bei betrieblichen oder privaten Rentensparplänen: Eine kleine Änderung der Fragestellung bewirkt wesentlich höhere Teilnahmequoten. Beim Thema Organspende zeigte der IW-Direktor gewisse Skrupel. Darüber habe man in seinem Institut lange diskutiert, ob diese quasi verpflichtend gemacht werden solle. (Und in der Tat: Ist es so, dass meine Organe dem Staat oder der Allgemeinheit gehören, wenn ich nicht ausdrücklich dagegen protestiere? Sollten “Hirntote” einfach so “ausgeschlachtet” werden dürfen? Ich sträube mich gegen den Gedanken.)

Ein anderes, drastisches Beispiel für unvernünftiges menschliches Verhalten, das Falk gab, ist die Fettleibigkeitsepidemie in den Vereinigten Staaten (aber nicht nur dort): “Vor allem Kinder aus benachteiligten Schichten futtern den letzten Scheiß”, beklagte Falk. “Ich wäre für ein Verbot von Junk Food, aber das kann letztlich nur demokratisch entschieden werden.” Für Falk, der sich zur SPD bekennt, ist die “Hilfsbedürftigkeit des Menschen” manifest und Ausgangspunkt seiner Politikempfehlungen. Hüther gab immerhin noch schwach zu bedenken, dass es aus liberaler Sicht auch die Freiheit des Menschen gebe, sich selbst zu schädigen. (Nach John Stuart Mills “no harm principle” sind nur solche staatliche Interventionen legitim, die eine Schädigung eines anderen verhindern; gegen Unvernunft – ist eine subjektive Kategorie – sollte der Staat nicht vorgehen.) Aber dann kommt das Problem der kollektiven Sozialsysteme, gab Hüther zu bedenken: Wenn Menschen durch ungesunde Ernährung viel zu fett werden, verursacht das Gesundheitskosten, die der Allgemeinheit aufgebürdet werden.

Mir stellte sich hier eine heikle Frage: Die Verhaltensökonomen zeigen, dass die Menschen im täglichen Leben, in Wirtschaftsfrage und besonders auf Finanzmärkten zuweilen irrational handeln. Viele Menschen haben eine (zu starke) Gegenwartsfixierung, lassen sich von Emotionen und Reizen leiten und beachten nicht die langfristigen Folgen ihres Tuns. Falk will das (durch demokratische Mehrheitsentscheidungen) unterbinden. Aber warum sollte der Wähler anders als der Konsument sein, viel vernünftiger und rationaler? Studiert der durchschnittliche Bürger vor der Bundestagswahl die Parteiprogramme, rechnet er die Wahlversprechen der Parteien durch, sucht aktiv und gründlich nach Informationen, wägt sorgfältig ab? Wohl kaum. Die Wahlentscheidung ist bei vielen Menschen eine reine Bauchentscheidung. Sie lassen sich von geschickten politischen Kampagnen beeinflussen (wie die Konsumenten von suggestivem Marketing). Wenn wir die Konsumentensouveränität immer niedriger hängen und vom Bild des mündigen Bürgers abgehen, warum vertrauen wir dann seiner Weisheit als Wähler?

Die Verhaltensökonomik war nur einer von vier Themenblöcken der Konferenz. In einer Session diskutierten OECD-Statistiker Paul Schreyer, Stefan Bergheim vom Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt sowie Jörg Mayer-Ries vom Bundesumweltministerium über neue, breitere Maße zur Messung von Wohlstand und Wohlfahrt. Das BIP als zentralen Indikator lehnen viele Menschen ab, sagte Schreyer. Um dem Misstrauen in die Statistiken zu begegnen, hat die OECD den “Better Life Index” erfunden, der sowohl materielle als auch weichere Indikatoren kombiniert. Bergheim sieht als gesellschaftlichen Trend, dass sich die Präferenzen immer mehr vom BIP wegentwickeln. Das Easterlin-Paradox, wonach mehr Wohlstand nicht zu mehr Glück führte, lehnte er indes als „falsche Fährte” ab. Mayer-Ries sagte, eigentlich sei die Kritik am BIP ein alter Hut, weil die Diskussion schon seit den 70ern schwele, aber erst jetzt – mit der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission und der Enquete-Kommission des Bundestags – sei sie in der Politik angekommen.

Die Tücken der Politikberatung beleuchteten Philipp Legrain, Wirtschaftsberater von EU-Kommissionspräsident Barroso, und der Princeton-Professor Markus Brunnermeier. Der jugendliche Brite Legrain, einer der seltenen Euro-Freunde auf der Insel, warb für Eurobonds und wollte die EZB in der Rolle des “lender of last resort” für Regierungen, also als direkten Staatenfinanzierer, sehen. Wenn Deutschland nicht mehr zahle und seine Mitschuld an der Krise (durch zu viel Export, der mit Kredit finanziert wurde) einsehe, dann werde der Euro zerbrechen, drohte der Barroso-Berater. Brunnermeier, ein gebürtiger Bayer, beeindruckte zunächst durch sein Englisch mit schwer rollendem Rrr, das entfernt an Arnold Schwarzenegger erinnert. Er kontrastierte die eher informellen amerikanischen Politikberatungsrunden und den engen Kontakt des CEA mit Obama mit den etwas steifen deutschen Wissenschaftlichen Beiräten und dem Sachverständigenrat, der einmal im Jahr ein Gutachten abliefere, aber ansonsten nicht so dicht an der Politik dran sei.

Diane Coyle (Fotoquelle privat)Über weite Strecken dominierten kritische Beiträge zur “modernen Makroökonomik” die Konferenz. Diane Coyle (Foto: privat) vom privaten britischen Beratungsinstitut Enlightenment Economics vertrat mit Verve und klugen Argumenten die Ansicht, die Wirtschaftskrise sei auch eine Krise der Wirtschaftswissenschaften. “Das Standard-Makrodenken kann die Krise nicht überleben, aber es wird auch kein Revival keynesianischen Makroökomomik der 70er geben”, meinte sie. Ein mögliches neues Paradigma liege eben noch im Nebel.

Die neoklassische Ökonomik mit der Annahme der rationalen Erwartungen sei völlig wirklichkeitsfremd, kritisierte Coyle (und brachte dazu den alte Witz mit den zwei Ökonomen, die auf der Straße einen Geldschein liegen sehen, ihn aber nicht aufheben, denn “wenn da wirklich ein Geldschein läge, hätte ihn schon jemand aufgehoben”). Begrenzte Informationen und Unsicherheit führen dazu, dass Finanzmärkte nicht perfekt funktionieren. Zudem kritisierte Coyle, dass sich Ökonomen nicht um Ungleichheit scheren, sondern nur auf Effizienz hofften.

Die Krise sollte die Ökonomen demütig machen, forderte Coyle, sie sollten sich der inhärenten Problematik von Prognosen bewusster werden. In den Lehrplänen der Universitäten sieht sie “zu viel Makro”, zudem werde meist nur ein Modell gelehrt und der Kontext des Wirtschaftens – der politische, rechtliche und soziale Rahmen – weitgehend ignoriert. Den Studenten würden keine Kenntnisse über die Institutionen vermittelt, etwa über das Bankensystem. Und sie hätten wenig bis kein Wissen über Dogmengeschichte und Wirtschaftsgeschichte.

Die Klage über die Verdrängung und das Vergessen der Wirtschafts- und Dogmengeschichte führten auch andere, sehr deutlich Michael Hüther sowie Robert Johnson vom britischen keynesianischen Institute for New Economic Thinking. Auch ich sehe in der Geschichtsvergessenheit eine Hauptursache für den gefährlichen Überoptimismus, mit dem viele Ökonomen vor einigen Jahren von einer “Great Moderation” (großen Mäßigung) sprachen und Risiken ignorierten (Kommentar hier).

Kenneth Rogoff - Foto: Rainer WohlfahrtKenneth Rogoff (Foto: Rainer Wohlfahrt), der frühere IWF-Chefvolkswirt und Autor des Bestsellers “This Time is Different” über Finanzkrisen aus acht Jahrhunderten, sprach explizit von einem “Rückkehr der Geschichte” durch die Krise. Dass sich nun die volkswirtschaftliche Lehre völlig ändern werde, erwartet er nicht. Aber sie sollte mehr Interesse für historische Fragen entwickeln. Die Illusion der “großen Mäßigung” konnte nur aufkommen, weil die Forscher die langfristigen Datenreihen und die regelmäßige Häufigkeit von Krisen ignorierten.

Auch Rogoff sparte nicht mir harscher Kritik an der gängigen Makroökonomik: Deren Modelle seien zwar elegant, aber auch “sehr, sehr nutzlos”, sagte Rogoff dem “Handelsblatt”. “Sie schienen anständig zu funktionieren, solange die Welt ziemlich ruhig war”, aber “als der große Schock kam, erwiesen sie sich als wertlos”. Nun sei die Zeit für mehr Experimente gekommen, für die Erforschung der Unvollkommenheit von (Finanz-)Märkten. Ein neues Paradigma werde aber nicht so schnell aufkommen, denn es sei leichter, das bestehende, neoklassische Paradigma zu attackieren, als ein neues zu entwickeln.

Thomas Mayer - Foto: Helmut FrickeZu den Highlights der Konferenz zählte der Vortrag von Thomas Mayer (Foto: Helmut Fricke). Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank feuerte eine Breitseite gegen die “conventional economics” (auch hier nachzulesen). Viele Ökonomen, die mit mathematisch-statistischen Modellen von Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Risiken arbeiteten, seien einer “Kontrollillusion” erlegen. In der Wirtschaft und an Finanzmärkten gebe es aber nicht nur normalverteilte Risiken, sondern Knight’sche Unsicherheit. Die gängige Wirtschaftstheorie konnte die Finanzkrise nicht vorhersehen, könne sie nicht erklären und sie auch nicht überwinden helfen, “weil sie den Kreditzyklus nicht verstehen”, betonte Mayer.

Als Alternativen böten sich zwei Theorien: Hyman Minskys postkeynesianische Theorie sowie die monetäre Konjunkturtheorie der Österreicher von Mises und von Hayek. Mayer ließ deutliche Sympathie für die österreichische Konjunkturtheorie durchblicken, welche die Krise als Folge einer Aufblähung der Kredite durch zu viel billiges Geld erklärt. Er lehnt aber die Schlussfolgerung ab, die Fehlinvestitionen samt und sonders zu liquidieren. Dies könnte in eine Abwärtsspirale führen. Dennoch bleibt er skeptisch, ob der gewählte Weg, die Krise nach dem Platzen der Kreditblase mit noch mehr billigem (Zentralbank-)Geld zu überdecken, auf die Dauer gutgehen kann. Wenn es ganz schlecht ende, dann verlöre die Bevölkerung das Vertrauen in das “Fiat Money”-System der Zentralbanken, sagte Mayer düster. Wenn das passierte, dann wäre die Krise von 2008/2009 wohl nur ein laues Lüftchen.

 

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