Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Vive la France! Vive l’Allemagne!

Die Französische Revolution hat die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gefördert. Der Sonntagsökonom von Gerald Braunberger

Die Französische Revolution hat die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gefördert.

Von Gerald Braunberger

“Ohne lange Überlegung drängte sich mir (nach einer Schifffahrt auf dem Rhein. G.B.) aber auch die Vorstellung auf, dass diese malerischen Burgen, oft dicht beeinander liegend, wohl jenen das Leben schwer gemacht haben mussten, die ihre Güter auf dem Rhein transportierten. Ihnen dürften die Raubritter und Zollwegelagerer weniger reizvoll erschienen sein. Die Zahl und dichte Folge dieser Burgen erinnern daran, dass der Rhein nicht von einem Staat kontrolliert wurde: Ein einzelner Staat hätte besser gewirtschaftet, also weniger Burgen errichtet und weniger Zölle erhoben; er hätte, im Gegensatz zu den einzelnen Baronien oder kleinen Hoheitgebieten, einen Anreiz gehabt, Steuern und Zölle so niedrig zu halten, dass sich ein hohes Handels- und Produktionsvolumen ergab und damit ein höherer Gesamtertrag aus der Besteuerung. So wurden die reizenden, nahe beieinander liegenden Burgen am Rhein für mich zum Symbol für die geringe Größe und den parochialen Charakter der Hoheitsgebiete, die den größten Teil Europas zur Feudalzeit beherrschten; besonders wurden sie mir aber zum Symbol für die ungewöhnlich lange Dauer dieses Zeitalters der Kleinstaaterei in den meisten deutschsprachigen Gebieten Europas.”

Mancur Olson: Aufstieg und Niedergang von Nationen, Tübingen 1991, Seiten X und XI

 

Über viele Generationen haben Schulkinder in Deutschland gelernt, dass der in preußischen Diensten stehende Reichsfreiherr vom Stein nach der Niederschlagung Napoleons die Modernisierung Deutschlands wesentlich vorangetragen habe. Seit einigen Jahrzehnten findet sich in der deutschen Geschichtsschreibung allerdings auch folgende These: Gerade das Frankreich Napoleons habe während seiner vorübergehenden Besetzung von Teilen Deutschlands entscheidende Impulse für die Modernisierung des rechtsrheinisches Nachbarn geleistet. So gelangte der bekannte deutsche Historiker Thomas Nipperdey in den frühen achtziger Jahren zu dem Schluss, am Anfang der Geschichte des modernen Deutschlands habe Napoleon gestanden. Die anschließenden Reformen Steins seien dagegen eine “defensive Modernisierung” (der Historiker Hans-Ulrich Wehler) als Reaktion auf das Vorgehen der Franzosen gewesen. Diese Ansichten findet nun Unterstützung durch in den Vereinigten Staaten arbeitende Ökonomen, die sich mit der Frage befassen, wie der wirtschaftliche Reichtum in die Welt gekommen ist.

Illustration: Alfons HoltgreveDaron Acemoglu und James Robinson vertreten in ihrem bravourösen Buch “Why Nations Fail” und in einem in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlichten Artikel die These, die wirtschaftliche Entwicklung hänge wesentlich von den politischen Institutionen in einem Land ab. Förderlich seien vor allem Institutionen, die eine Teilhabe von möglichst vielen Menschen am politischen und wirtschaftlichen Leben gestatten. Stark verkürzt lautet ihre Schlussfolgerung für Europa: Weil sich in England früh geeignete politische Institutionen bildeten, sei dort die Industrielle Revolution ausgebrochen, für deren Ausbreitung auf dem Kontinent dann wiederum die Französische Revolution eine wesentliche Rolle gespielt habe.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Acemoglu und Robinson preisen nicht militärische Aggressionen. Tatsache ist aber, dass nicht nur in Europa im Laufe der Jahrhunderte politische Institutionen durch die Einwirkung äußerer Kräfte verändert wurden. Früher geschah dies oft durch Kriege, aktuell aber auch nichtmilitärisch, wie sich etwa in Griechenland und Portugal als Folge der Sanierungsprogramme beobachten lässt. Die Folgen solcher institutionellen Veränderungen analysieren die beiden Autoren nüchtern.

Die Untersuchung zu den Folgen der Französischen Revolution auf Deutschland besitzt einen historisch-erzählenden und einen empirischen Teil. Die historisch-erzählenden Ausführungen beschreiben, wie in Deutschland vor der Französischen Revolution mittelalterliche und feudalistische Strukturen dominierten, die einer Entfaltung des wirtschaftlichen Potentials entgegenstanden. Für das Land sei beispielhaft auf die Grundherrschaft verwiesen, für die Stadt auf die Existenz von Zünften. Hinzu traten wirtschaftsschädliche Eingriffe durch den regierenden Adel. Als Beispiel für die Zustände in Deutschland führen die Autoren das kleine Fürstentum Nassau-Usingen an, das sich überwiegend im armen Hintertaunus befand. Hier waren die Bauern vor der Eroberung durch die Franzosen 230 verschiedenen Abgaben und Dienstverpflichtungen unterworfen. Die Autoren erwähnen den “Blutzehnt”, der nach der Schlachtung von Tieren zu entrichten war, den “Bienenzehnt” und den “Wachszehnt”.

Die Wende brachte das von den französischen Truppen mitgeführte neue Zivilrecht, der “code civil”, der in einigen deutschen Gebieten auch nach dem Ende der Franzosenherrschaft weiter galt. Abgelöst wurde der “code civil” sehr viel später durch das Bürgerliche Gesetzbuch. Mit Hilfe des “code civil” ließen sich die mittelalterlichen Relikte beseitigen, denn er beinhaltete unter anderem den Schutz des Privateigentums, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gewerbefreiheit, die freie Berufswahl und die Abschaffung des Zunftzwangs. Die These von der Modernisierung Deutschlands durch französischen Einfluss mag verlockend sein. Aber lässt sie sich auch nachweisen?

Hierzu müssten die Autoren zeigen, dass sich die Wirtschaft in jenen Teilen Deutschlands, die vorübergehend unter französischem Einfluss standen, langfristig besser entwickelt hat als in jenen Teilen, die nie von Frankreich kontrolliert wurden. Da es damals keine Statistiken über das Bruttoinlandsprodukt gab, versuchen die Autoren, wirtschaftlichen Wohlstand indirekt durch die Bevölkerungsentwicklung in den damaligen Städten zu schätzen. Die dahinter stehende Überlegung ist, dass in einer Zeit, in der der Fernhandel beschränkt war, ein Wachstum der Stadtbevölkerung eine entsprechende Produktionssteigerung in der umliegenden Landwirtschaft voraussetzte. Das Verfahren ist gleichwohl nicht unproblematisch und wohl nur als Annäherung brauchbar – unter anderem, weil die Datenbasis nicht perfekt ist. Acemoglu und Robinson warnen auch davor, an ihre empirischen Ergebnisse allzu streng heranzugehen. Sie sehen ihre Grundthese vom positiven Einfluss der Französischen Revolution auf die deutsche Wirtschaftsentwicklung aber nicht gefährdet.

Acemoglu und Robinson befürworten eindeutig die Marktwirtschaft, aber es ist interessant, wie weit sie in einzelnen Positionen von Friedrich von Hayek und seinen Jüngern entfernt sind. Erstens hat Hayek gerne den vorteilhaften Einfluss britischen Denkens und den nachteiligen Einfluss französischen Denkens für die Marktwirtschaft hervorgehoben. Hayek stand in “Die Verfassung der Freiheit” auch dem “code civil” kritisch gegenüber. Da wäre es fast ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet die Franzosen Teile Deutschlands aus dem Mittelalter befreit und die Voraussetzung für moderne Institutionen geschaffen hätten.

Zweitens bricht sich das liberale Plädoyer für die Kleinstaaterei (hier ein Beispiel aus der Feder Roland Vaubels) an den Erkenntnissen Acemoglus und Robinsons. Das wichtigste Ereignis der Neuzeit, die Industrielle Revolution, begann nicht in einem kleinen Staat (England) und sie wurde von einer anderen europäischen Großmacht (Frankreich) exportiert. Die lange währende politische Zersplitterung Deutschlands und Italiens hat den Eintritt der beiden Länder in die Industrialisierung eher erschwert als erleichtert. Die vielen Burgen und Schlösser am Rhein stehen in wirtschaftlicher Hinsicht für frühere Zollschranken und nicht für wirtschaftliche Freiheit (worauf niemand Geringerer als Mancur Olson hingewiesen hat, siehe das Eingangszitat). Es ist nicht ein Wettbewerb kleiner Staaten gewesen, der Europa wirtschaftlich vorangebracht hat, denn dabei handelte es sich in erster Linie um einen Wettbewerb unter Feudalherren und Oligarchen. Die Befreiung vom Feudalismus nahm in England ihren Anfang. Fazit: Es kommt alleine auf die richtigen Institutionen an – nicht auf die Größe des Landes.

Drittens ist es oft ein radikaler institutioneller Wandel, der die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes schafft. Oligarchien verwandeln sich in den seltensten Fällen ohne Spannungen und Umbrüche in Demokratien. Das heißt: Das Design neuer Institutionen ist durchaus möglich und manchmal geradezu notwendig. Das steht im Widerspruch zur Auffassung Hayeks, wonach sich Institutionen organisch entwickeln müssen und nicht am Reißbrett entworfen werden dürfen.

Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Acemoglu & Co., die seit rund drei Jahren in Form von Arbeitspapieren kursierten, findet sich in einer Arbeit des deutschen Ökonomen Joachim Zweynert. Er konstatiert zunächst, dass die Frage “Schocktherapie oder gradueller Wandel” seit der Veröffentlichung des Buches “One Economics, Many Recipies. Globalization, Institutions, and Economic Growth” des Harvard-Ökonomen Dani Rodrik wieder häufiger diskutiert werde. Zweynert sieht seine Arbeit als eine Ergänzung zu Acemoglu/Robinson: “Its aim, however, was never to refute their thesis, but, rather, to complement their analysis. In my view, apart from the convincing empirical evidence of the positive long-term impact of the French invasion on the occupied territories, the explanatory power of their analysis is limited in several ways.”So hält es der Verfasser für fragwürdig, aus Institutionenänderungen als Folge militärischer Interventionen Schlussfolgerungen zu ziehen für Institutionenänderungen, die sich in unserer Zeit als Ergebnis friedlicher Prozesse einstellen. Zweynert bemämgelt zudem, dass Acemoglu & Co. nicht die Bedingungen herausarbeiten, die historische Vergleiche ermöglichen.

Zweynert vergleicht dann ausführlich die institutionelle Entwicklung der süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden, die unter französischem Einfluss standen, aber auch gewisse Freiheiten besaßen mit der Entwicklung Preußens im frühen 19. Jahrhundert. Es führte zu weit, diese Ausführungen hier zu präsentieren, sie können jedem Interessierten aber ausdrücklich empfohlen werden. Verwiesen sei nur noch auf die Überlegung des Autors, dass als Folge der durch die Franzosen bewirkten Änderungen Südwestdeutschland später die Wiege liberalen und verfassungsorientierten Denkens in Deutschland geworden sein mag.

Der Beitrag ist eine ausführlichere Fassung eines Artikels, der als Sonntagsökonom in der F.A.S. vom 29. April erschienen ist. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.

 

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