Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Goethe, das Geld und die aktuelle Krise (7): Warum deutsche Ökonomen nach Italien reisen anstatt aus der Ferne über Italien reden sollten

Goethe war kein Ökonom, aber er begegnete in seinem Leben dem Denken fünf wirtschaftlicher Schulen. Gerade seine berühmte "Italienische Reise" zeigt, wie sehr Goethes Denken durch Anschauung geprägt war. In Zeiten der Eurokrise wäre eine Reise nach Italien auch für deutsche Ökonomen eine hilfreiche Erfahrung, denn der wirtschaftliche Zustand eines Landes lässt sich nicht vollständig in Zahlen ausdrücken. Von Gerald Braunberger

Goethe war kein Ökonom, aber er begegnete in seinem Leben dem Denken fünf wirtschaftlicher Schulen. Gerade die berühmte “Italienische Reise” zeigt, wie sehr sein eigenes Denken durch Anschauung geprägt war. In Zeiten der Eurokrise wäre eine Reise nach Italien auch für deutsche Ökonomen eine hilfreiche Erfahrung, denn der wirtschaftliche Zustand eines Landes lässt sich nicht vollständig in Zahlen ausdrücken.

Von Gerald Braunberger

 

“Wenn ich von liberalen Ideen höre, so verwundere ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wortschällen hinhalten; eine Idee darf nicht liberal sein. Kräftig sey sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag productiv zu seyn erfülle…”

Johann Wolfgang von Goethe

 

Zu den niemals recht gewürdigten Traditionen deutschen ökonomischen Denkens zählt die sogenannte “Anschauliche Theorie“. Ihre Wurzeln reichen bis in das 18. Jahrhundert zurück; eine kurze Blüte erlebte sie in Gestalt der Erforschung von “Wirtschaftsstilen” in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, und ihre damals wohl wichtigsten Vertreter hießen Arthur Spiethoff und Edgar Salin. In unserer Zeit hat vor allem Bertram Schefold (Universität Frankfurt), ein Schüler Salins, an diesen Konzepten gearbeitet, ohne dass sie der Mainstream besonders beachtet hätte. Das ist insofern nicht erstaunlich, als die Wirtschaftsstilforschung keine rein ökonomische ist, sondern Erkenntnisse aus Nachbarwissenschaften mit einbeziehen will. Nach Spiethoff besteht der Wirtschaftsstil eines Landes aus fünf Merkmalen:
– aus einem Wirtschaftsgeist oder einer Mentalität
– aus den natürlichen und technischen Grundlagen der Wirtschaft
– aus der Wirtschaftsverfassung
– aus der Gesellschaftsverfassung
– aus der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung.

Was immer man von diesem Konzept hält: Mit der Beschränkung auf theoretische Modelle und deren Überprüfungen durch ökonometrische Untersuchungen würde man einer Wirtschaftsstilanalyse nicht gerecht. Stattdessen muss man im wahrsten Sinne des Wortes auf ein zu untersuchendes Land “schauen” – um eben eine Anschauung jenseits von Statistiken und ökonomischen Indikatoren zu gewinnen. Schefold hat in einem Beitrag für den Katalog zur Frankfurter Goethe-Ausstellung (“Goethe und die Anschauliche Theorie”) gezeigt, wie Goethe (Foto: picture-alliance/dpa) während seiner “Italienischen Reise” durch Anschauung Erkenntnisse über das italienische Wirtschaftsleben jener Zeit gewann.

Als Goethe die Alpen überquert hatte, bemerkte er in Bozen: Bild zu: Goethe, das Geld und die aktuelle Krise (7): Warum deutsche Ökonomen nach Italien reisen anstatt aus der Ferne über Italien reden sollten

“Die vielen Kaufmannsgesichter freuten mich beisammen. Ein absichtliches, wohlbehagliches Dasein drückt sich recht lebhaft aus. Auf dem Platze saßen Obstweiber mit runden, flachen Körben, über vier Fuß im Durchmesser, worin die Pfirsischen neben einander lagen, daß sie sich nicht drücken sollten. Ebenso die Birnen.”

Auf seiner weiteren Reise studierte Goethe Städte und Landwirtschaft, und bei aller Faszination über das Land beklagte er sich bitterlich über die Unreinlichkeit der Bewohner. Aus seinen Erfahrungen mit den Reisewagen zog er weitreichende Schlüsse:

“Dieses Italien, von Natur höchlich begünstigt, blieb in allem Mechanischen und Technischen, worauf doch eine bequemere und frischere Lebensweise gegründet ist, gegen alle Länder unendlich zurück.”

Nach einem längeren Aufenthalt in Rom reiste Goethe in den Süden, darunter nach Sizilien und Neapel, und setzte sich mit dem Vorurteil auseinander, im Süden mangele es an einer ordentlichen Einstellung gegenüber der Arbeit:

“Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes dass dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigten.”

Nach weiteren Studien gelangte Goethe zu dem Schluss:

“Es ist wahr, man tut nur wenige Schritte ohne einem sehr übelgekleideten, ja sogar einem zerlumpten Menschen zu begegnen, aber dies ist deswegen noch kein Faulenzer, kein Tagedieb! Ja ich möchte fast das Paradoxon aufstellen, daß zu Neapel verhältnismäßig vielleicht noch die meiste Industrie in der ganz niederen Klasse zu finden sei.”

Natürlich hat Goethe in der “Italienischen Reise” keine systematische Erörterung des dortigen Wirtschaftslebens geliefert. “Zu Landwirtschaft und Bauten finden sich die meisten Einzelheiten”, schreibt Schefold. “Die Ordnung – oder ihr Mangel – betrifft nicht nur Fragen der Reinlichkeit, sondern Fragen der Arbeitsorganisation, der Freizeit und der Feste, des Kirchgangs, des Theaters, denn noch ist es selbstverständlich – auch das war für die Kameralisten ‘Policey’ -, dass der Staat eine Gliederung der Lebensläufe vorgibt, in der sich die italienischen Staaten im Einklang mit ihren unterschiedlichen politischen Formen unterscheiden.”

 

Als versierter Kenner der ökonomischen Lehrmeinungen präsentiert Schefold in seinem Aufsatz auch jene fünf – im Nachhinein identifizierbare – ökonomische Schulen, mit denen Goethe während seines Lebens in Berührung kam; außerdem geht er der Frage nach, wie Goethes wirtschaftliches Denken einzuordnen wäre. Goethe verfügte über keine geringe wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Erfahrung: “Der junge Goethe war nach Weimar gekommen, nicht um zu dichten, sondern um in die Regierung einzutreten”, schreibt Schefold. “In den Jahren vor der italienischen Reise nahm er dann an über fünfhundert Sitzungen des Consiliums teil.” Bei den fünf Lehren handelt es sich um:

1. Kameralismus/Merkantilismus
2. Physiokratie
3. Liberalismus/Klassik
4. Frühsozialismus
5. Historische/Romantische Schule

Es ist hier nicht der Platz, diese Schulen zu beschreiben, noch, ihre Spuren in Goethes Werk vollständig aufzuführen. Hier ist auf den Aufsatz Schefolds sowie auf ein von Bernd Mahl im Jahre 1982 veröffentlichtes Buch (“Goethes ökonomisches Wissen”) zu verweisen. Goethe war kein geistig früh erstarrter “Betonkopf”, sondern ein Mann, der im Laufe eines langen Lebens neue Einflüsse auf sich wirken ließ. Insofern lässt sich sein wirtschaftliches Denken nicht leicht innerhalb eines Rasters verorten. “Goethes freie, offene Haltung zur Welt und sein Vertrauen in die Schaffenskraft des Individuums lassen sich als Liberalismus interpretieren, doch trotz seiner Freundschaft mit dem Smith-Übersetzer Sartorius identifizierte er sich nicht ohne Vorbehalte mit dem klassischen Liberalismus und dem Freihandelssystem”, schildert Schefold. Im “Wilhelm Meister” werden “genossenschaftliche Wirtschaftsideale und gemeinschaftliche Erziehungsformen erprobt” (Schefold). Versteht man den Kameralismus als eine Lehre, die den Staat nicht nur als Ausplünderer und Regulierer der Menschen, sondern als Anbieter nutzbringender Dienstleistungen für die Menschen wahrnimmt, besaß Goethe,nicht zuletzt in seiner Rolle als Wirtschaftspolitiker, auch kameralistische Neigungen.

Den Wert der Freiheit zu schätzen, ohne jede Übertreibung von Liberalen mitzutragen; den Staat nicht nur als Leviathan, sondern auch als eine nutzbringende Institution wahrzunehmen; wirtschaftliche Dynamik zu akzeptieren, ohne blind für die Kosten des Wandels zu sein; Maß zu halten auch in der Übertragung gedanklicher Ideale auf die Wirtschaftspolitik in einer komplexen und unsicheren Welt; Geschichte nicht als unnützen Gedankenballast, sondern als eine wichtige Quelle der Erkenntnis zu betrachten – dies wäre nicht nur eine Zusammenfassung des wirtschaftlichen Denkens Goethes, sondern, wer ihn ein wenig kennt, vielleicht auch eine Beschreibung des wirtschaftlichen Denkens Bertram Schefolds.

 

Mit diesem Beitrag endet die Reihe “Goethe, das Geld und die aktuelle Krise”.

 

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