Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

“Europa wird endlich normal”

Austerität ist nicht der Grund, warum die Wirtschaft in der Eurozone schwächer wächst als in den Vereinigten Staaten. Statt dessen hat die Eurozone zu langsam die Banken saniert, zu lange mit Wertpapierkäufen durch die Zentralbank gezögert und Strukturreformen verschleppt. Jetzt endlich wird Europa normal, sagt Lorenzo Bini Smaghi. Den Deutschen rät er, in Wirtschaftsfragen mehr auf Daten zu vertrauen als auf Glaubensbekenntnisse.

Lorenzo Bini Smaghi, ein international ausgebildeter und erfahrener Ökonom, ist ein früheres Führungsmitglied der Europäischen Zentralbank (2005 bis 2011), heute als Wissenschaftler an der Harvard University tätig und bald Aufsichtsratsvorsitzender der französischen Großbank Société Générale. Am Forschungszentrum SAFE der Frankfurter Goethe-Universität hat Bini Smaghi einen überwiegend stimulierenden, gelegentlich auch leicht provozierenden Vortrag gehalten, den wir hier ebenso wie die anschließende Diskussion zusammenfassen.

 

Die Eurozone wächst langsamer als die Vereinigten Staaten. Warum?

Ein Blick auf das Bruttoinlandsprodukt zeigt ein klares Ergebnis. Normiert man das BIP des Jahres 2007 mit 100, dann lag das BIP der Eurozone im vergangenen Jahr wieder bei 100, das BIP der Vereinigten Staaten aber bei 111. Die Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren in den Vereinigten Staaten deutlich schneller gewachsen als in der Eurozone. Warum?

Auf die Spur zur Wahrheit kann nach Ansicht Bini Smaghis die Beobachtung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf führen. Danach haben sich die Eurozone und die Vereinigten Staaten in den Jahren 2007 bis 2011 in etwa gleich entwickelt. Eine Divergenz lässt sich erst danach erkennen, aber diese Divergenz ist auffallend. In der Eurozone ist offenbar in den vergangenen Jahren etwas gründlich schief gelaufen.

 

Der falsche Sündenbock: Austerität in der Finanzpolitik

Viele amerikanische und einige europäische Ökonomen vertreten die Auffassung, eine zu straffe Finanzpolitik (“Austerität”) sei die wichtigste Ursache der wirtschaftlichen Schwäche der Eurozone. Die Debatte über Austerität hat mit der Berufung Giannis Varoufakis’ zum griechischen Finanzministers einen neuen Schub bekommen.

Bini Smaghi hält Austerität zu Unrecht für den Sündenbock, sowohl für die Eurozone insgesamt wie für Griechenland. Seine Argumentation, die auf saisonbereinigten Daten für die Haushalte der Gesamtstaaten beruht, geht wie folgt: Die Finanzpolitik war zwar in den Jahren 2008 und 2009 in den Vereinigten Staaten expansiver als in der Eurozone. Aber in den Jahren danach, in denen die amerikanische Wirtschaft schneller wuchs als die europäische, war die amerikanische Finanzpolitik nicht mehr expansiver als die Finanzpolitik in der Eurozone. Austerität erklärt nicht viel.

 

Eine richtige Erklärung: Langsame Sanierung der Banken

In den Vereinigten Staaten wie in der Eurozone sind die Kredite an Unternehmen in den ersten Jahren nach Ausbruch der Finanzkrise deutlich zurück gegangen. Aber seit dem Jahr 2010 hat sich die Kredittätigkeit in den Vereinigten Staaten spürbar belebt, während sie in der Eurozone – auch in Deutschland – wenig dynamisch geblieben ist. Dies mag ein Grund sein, warum die amerikanische Wirtschaft schneller wächst als die Wirtschaft in der Eurozone.

Bini Smaghi erklärt dies mit einer viel zupackenderen Bankensanierung in den Vereinigten Staaten. Im Jahre 2009 zwang die Regierung in Washington die führenden amerikanischen Banken regelrecht, staatliches Eigenkapital befristet zu akzeptieren, obgleich diese sich seinerzeit nicht in akuter Gefahr befanden hatten. In Europa hat man viel länger mit der Bankensanierung gezögert; staatliches Eigenkapitalzuschüsse gab es in der Regel (zum Beispiel in Deutschland bei der Hypo Real Estate) erst dann, wenn die Banken dringend gerettet werden mussten. So hat Europa wichtige Jahre verloren.

Europa wird in dieser Hinsicht endlich normal, konstatiert Bini Smaghi heute mit Blick auf die Bankenunion und die Übernahme der Aufsicht großer Banken durch die EZB.

 

Die zweite richtige Erklärung: Langsame Reaktion der Geldpolitik

In den Vereinigten Staaten, aber auch in Großbritannien, liegen die Renditen zehnjähriger Anleihen seit dem Jahr 2010 unter der nominalen Wachstumsrate des BIP. Dazu beigetragen haben die Programme der Fed und der Bank of England zum Ankauf von Wertpapieren (“Quantitative Easing”). Weil die Renditen unter der Wachstumsrate des nominalen BIP lagen, ist nach Ansicht Bini Smaghis in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien in den vergangenen Jahren ein wachstumsfördernder Schuldenabbau (“deleveraging”) in der Privatwirtschaft möglich gewesen.

Anders in einem großen Teil der Eurozone: In Ländern wie Italien, Spanien, Portugal, aber auch Frankreich haben die Renditen zehnjähriger Anleihen in den vergangenen Jahren über der Wachstumsrate des nominalen BIP gelegen. Dies hat ein wachstumsförderndes “deleveraging” verhindert. Eine Ausnahme bildete Deutschland, wo die Rendite zehnjähriger Papiere wie in Amerika und Großbritannien unter der Wachstumsrate des nominalen BIP lag. Warum? Bini Smaghi spricht von einem “Quantitative Easing ohne die EZB” – erhebliche Käufe deutscher Anleihen durch Anleger aus der Peripherie haben in den vergangenen Jahren die deutschen Renditen gedrückt.

Europa wird mit Blick auf die Geldpolitik endlich normal, sagt Bini Smaghi und verweist auf die seines Erachtens allerdings zu spät getroffene Entscheidung der EZB, ein “Quantitative Easing” zu beginnen. Der durch QE bewirkte Rückgang der Anleiherenditen wird nach seiner Ansicht auch in der Peripherie (Griechenland ist eine Ausnahme) die Wirtschaft anregen.

 

Eine dritte richtige Erklärung: Strukturreformen wurden verschleppt

Auch wenn Bini Smaghi die Bedeutung der Geldpolitik nicht kleinreden will, sagt er doch auch: “Macro policies is not enough.” Nach seiner Meinung leiden Länder wie Italien unter strukturellen, langfristigen Problemen, die der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft abträglich sind und nicht durch Geldpolitik bekämpft werden können. Daher hält Bini Smaghi Strukturreformen für notwendig; seines Erachtens wird auch die Wirksamkeit expansiver Geldpolitik von den Angebotsbedingungen einer Volkswirtschaft beeinflusst.

Europa wird auch mit Blick auf Strukturreformen allmählich normal, meint Bini Smaghi. Er nennt Spanien und Irland als Beispiele von Ländern, die in den vergangenen Jahren kräftig reformiert haben. Allerdings gibt es auch Länder wie Italien, die Nachholbedarf haben.

 

Elemente einer kontroversen Debatte

Im Anschluss an Bini Smaghis Vortrag kam es zu einer interessanten Debatte, die hier in Auszügen wiedergegeben werden soll.

– Ein Zuhörer gab zu bedenken, dass in Deutschland kein wirklicher Glaube in die stimulierenden Effekte von Quantitative Easing vorhanden sei. Bini Smaghi antwortete wörtlich: “You don’t have to believe. You have to look at the data.” Nach seiner Ansicht sind die seit einiger Zeit klar vernehmbaren Anzeichen für eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums in der Eurozone durch die Ankündigung von Quantitative Easing im vergangenen Herbst beeinflusst. Der Gouverneur der finnischen Zentralbank, Erkki Liikanen, vertritt auch diese Auffassung, ebenso EZB-Präsident Mario Draghi.

– Ein anderer Zuhörer formulierte den in Deutschland verbreiteten Einwand, die expansive Geldpolitik halte Regierungen von Strukturreformen ab. Wieder vertrate Bini Smaghi pointiert die Gegenmeinung: “This is not based on scientific evidence.” Die Wahrheit sei genau entgegengesetzt.

– Bini Smaghi deutete auch an, dass nach seiner Ansicht die Ursache der sehr niedrigen Zinsen in Deutschland oft missverstanden werde. Die niedrigen Zinsen seien Ergebnis einer sehr starken Sparneigung, der keine hohe Investitionstätigkeit entgegen stehe. Wer höhere Zinsen wolle, müsse Voraussetzungen für mehr Investitionen schaffen. Bini Smaghi warf die Frage auf, ob die im Ausland angelegten deutschen Ersparnisse von rund 8 Prozent des BIP im Jahr immer gut investiert seien. Auch im Interesse sicherer Renditen für die Sparer könne es sinnvoll sein, mehr Investitionen in Deutschland anzuregen.

– Die Gefahr, dass die Geldpolitik der EZB gefährliche Spekulationsblasen erzeuge, kann Bini Smaghi nicht erkennen. Es sei zwar möglich, dass gegenwärtig an Vermögensmärkten Überbewertungen aufträten. Aber da sie nicht durch eine starke Ausweitung der Kredittätigkeit finanziert würden, sieht Bini Smaghi keinen Anlass für Sorgen. 1)

———————————————————————————

1) Das sieht Bundesbankpräsident Jens Weidmann etwas anders, wie eine aktuelle Rede in München belegt.