Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Wirtschaftsgeschichte ist nicht tot!

Es gibt viel Kritik an einer angeblich oder tatsächlich einseitigen Ausrichtung der modernen Ökonomik. Ran Abramitzky (Stanford University) zeigt, dass Wirtschaftsgeschichte zumindest in den führenden englischsprachigen amerikanischen Fachzeitschriften ein Comeback erlebt. Die Frage ist: Welche Form von Wirtschaftsgeschichte?

“Unlike the average economist, economic historians still read and write books.” (Ran Abramitzky)

 

Als ich vor 30 Jahren an der Frankfurter Goethe-Universität Volkswirtschaftslehre studierte, existierten am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften (FB 02) ein Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte und ein Nebenfach Wirtschaftsgeschichte. Lehrstuhlinhaber war der wackere Jacob van Klaveren (1919 bis 1999), über den später ein Buch geschrieben wurde. Wie an anderen wirtschaftswissenschaftlichen deutschen Fachbereichen und Fakultäten ging der Lehrstuhl  im Laufe der Jahre verloren. Wahrgenommen wird die Wirtschaftsgeschichte in Frankfurt von Werner Plumpe, der einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften (FB 08) besitzt. Vor wenigen Jahren entstand am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Goethe-Universität mit Mitteln der traditionsreichen Bankhäuser Metzler und Edmond de Rothschild eine privat finanzierte Gastprofessur für Finanzgeschichte  – eine an sich schöne Initiative. Als erster Gastprofessor wurde der amerikanische Makroökonom Benjamin Friedman (Harvard University) berufen, dessen Antrittsvorlesung mitnichten ein finanzhistorisches Thema behandelte, sondern den Zusammenhang von Religion und ökonomischem Denken (in FAZIT hier zusammengefasst).

Wenn die Ökonomen die Wirtschafts- und/oder Finanzgeschichte aufgeben, müssen sie sich nicht wundern, wenn der Nachwuchs ausbleibt. Oder bleibt nur der Nachwuchs aus, der sich früheren Arbeitsweisen verpflichtet fühlt? Ein interessantes Paper mit Blick auf die Entwicklung in den Vereinigten Staaten hat jetzt der Wirtschaftshistoriker Ran Abramitzky vorgelegt. Seine These lautet: Wirtschaftsgeschichte ist im Kommen, wenn Wirtschaftshistoriker mit den Methoden des ökonomischen Mainstreams arbeiten: “To be sure, economic history remains a small field within economics, but the average economist today would answer a “yes” to the question of whether the past has useful economics.” Natürlich bestehen nach wie vor Unterschiede: “The typical modern economist does not share this view that history is interesting for its own sake. Most economists care about the past only to the extent it sheds light on the present.”

Aber sie lassen sich überwinden: “The fact that the typical modern economist does not care about the past per se does not mean that there is no room for economic history in modern economics … Moreover, this idea that understanding the past is necessary to understand the present is neither new nor should it be controversial among modern economists. In fact important economists such as Adam Smith, John Stuart Mill, Alfred Marshall, Ken Arrow, and Robert Solow have all viewed economic history as important to economics … Sir John Hicks, who shared the Nobel with Arrow, once commented that he would like to be known for his Theory of Economic History (1969) more than for anything he has done.”

Unter anderem weist der Verfasser nach, dass sich die Zahl wirtschaftshistorischer Arbeiten in den fünf führenden ökonomischen Fachzeitschriften (American Economic Review, Quarterly Journal of Economics, Journal of Political Economy, Econometrica und Review of Economic Studies) über die vergangenen 20 Jahre verdoppelt hat. Mit Blick auf wirtschaftshistorische 66 Doktoranden, die zwischen 2010 und 2014 ihren Abschluss gemacht haben, weist er nach, dass ihre Jobchancen im Schnitt nicht schlechter waren als die “normaler” Ökonomiedoktoranden. Die Regeln des Spiels setzen aber nicht die Wirtschaftshistoriker:   “An economic history paper appears more likely to be published in a top-5 economics Journal,relative to an economic history journal, when it studies the United States, when it has an identification strategy to get at a causal question, and when it uses economic theory to guide the analysis.”

Natürlich könnten Wirtschaftshistoriker auch andere Ansätze wählen, aber: “Economic historians engaging with the general economist should be aware of the way economists think about the past and ‘speak the same language’ when communicating with economists. Even a friendly economist who listens to the economic historian often is thinking: ‘What is the hypothesis that you want to test?’ ‘How did you address the endogeneity problem?’, ‘What is your identification strategy?’, and ‘How is your historical research relevant for today?’”.

In der Regel geht es darum, mit wirtschaftshistorischen Arbeiten – und das heißt üblicherweise: mit historischen Daten – ökonomische Theorien zu überprüfen. Hier schaffen moderne Formen der Datenbeschaffung und der Datenverarbeitung bislang unbekanntes Potential. Wirtschaftshistorische Erkenntnisse können aber zudem zur Folge haben, wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Wiederentdeckung der Finanzgeschichte im Zuge der jüngsten Finanzkrise bietet Anschauungsunterricht. Hinzu kommt, dass es Ökonomen gibt, die sich trotz des verbreiteten Klein-Kleins in ihrer Disziplin Interesse an “großen” Fragen bewahrt haben, an denen Wirtschaftshistoriker arbeiten: “Finally, economists have always been interested in the big questions that economic historians address, such as why are some countries rich and others poor? Why did the Western world grow richer and the rest of the world didn’t? Why did the Industrial Revolution happen in Europe and not elsewhere?”

Eine Zukunft scheint es für die Wirtschaftsgeschichte zu geben – aber es ist es auch eine schöne Zukunft? Und wird sie dem Fach Wirtschaftsgeschichte gerecht, wenn eines Tages dann vielleicht auch die Wirtschaftshistoriker keine Bücher mehr lesen und schreiben, aber statt dessen ihre Zeit in einer finsteren Datenmine verbringen?

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Wir hatten uns in FAZIT mit dem Thema moderner Wirtschaftsgeschichte schon in der Vergangenheit befasst.

Hier ist ein eher kritischer Beitrag meines Kollegen Rainer Hank („Clio rettet uns“):

https://blogs.faz.net/fazit/2012/07/28/clio-rettet-uns-506/

Und hier ist ein erklärender/einordnender Beitrag aus der Sicht moderner Ökonomik durch Christian Odendahl („Warum studieren Ökonomen die Geschichte?“):

https://blogs.faz.net/fazit/2012/05/21/die-geschichte-als-mittel-zum-zweck-417/

Von mir gibt es einen Beitrag, der auf die Beziehungen von Geschichte und Institutionenökonomik in der modernen Forschung hinweist („Geschichte ist wichtig. Aber warum eigentlich?“):

https://blogs.faz.net/fazit/2012/05/11/geschichte-ist-wichtig-aber-warum-eigentlich-406/

Wir haben im Laufe der Jahre auch mehrere Einzeluntersuchungen vorgestellt.