Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Aus 1929 gelernt – aber nicht genug

Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen zieht in Frankfurt Parallelen zwischen der großen Depression und der Finanzkrise. Von Hanna Decker

Barry Eichengreen© Jan RoederBarry Eichengreen

Über Entstehung und Ursachen der Finanzkrise ist seit ihrem Ausbruch 2008 viel geschrieben worden. Aus historischer Perspektive liegt der Vergleich mit der Großen Depression der Dreißiger Jahre nahe. Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen sieht viele Parallelen zwischen den beiden Krisen. Die Politiker hätten aus den Fehlern von damals gelernt – aber sie hätten noch mehr lernen können.

Das war die These eines Vortrags, den Eichengreen in dieser Woche an der Goethe-Universität in Frankfurt hielt, und der sich mit seinem neuesten Buch deckt. „Die großen Crashs 1929 und 2008 – Warum sich Geschichte wiederholt“ heißt das Anfang Juli auf Deutsch erschienene Werk von Eichengreen, der einen Lehrstuhl an der Berkeley-Universität in Kalifornien inne hat und im Feld zwischen Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte forscht. Er betont die Bedeutung der (Finanz-)Geschichte für die Politik, besonders in Krisenzeiten. Das Wissen über 1929 habe in der Bewältigung der Finanzkrise 2008 schlimmere Konsequenzen verhindert, da ist er sich sicher.

Die größten Fehler 1929 aus der Sicht von Eichengreen: Die Verantwortlichen kürzten die öffentlichen Ausgaben zum „schlimmstmöglichen Zeitpunkt“. Eine unkontrollierte Geldmenge führte in die Deflation. Und die Banken erhielten keine Not-Liquiditätshilfen. Die Folge war die größte makroökonomische Katastrophe der Geschichte. „All diese Fehler hätten damals von der Politik verhindert werden können“, sagt Eichengreen. Und 2008 wurde tatsächlich vieles besser gemacht: Die Märkte wurden mit Geld geflutet, die Zinsen gesenkt und die Bilanzen der Banken ausgedehnt. Fortschritte gab es auch bei der Finanzmarktaufsicht und -regulierung. Das Resultat wertet Eichengreen als Erfolg: 2010 lag die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten „nur“ bei 10 Prozent – immer noch hoch, aber längst nicht so hoch wie 1933, als jeder Vierte in Amerika keinen Job hatte. Seit 2008 mussten „nur“ einige Hundert amerikanische Banken schließen – und nicht einige Tausend. „Das ist das glückliche Narrativ“, sagt der Wirtschaftshistoriker. Aber: Er ist ein bisschen zu einfach, aus seiner Sicht.

“Druck zur Konformität”

„Warum hat niemand von Ihnen die Krise vorhergesehen?“, fragte Queen Elizabeth II. im November 2008 und stellte damit die versammelten Ökonomen in der London School of Economics bloß. Eichengreen nimmt sich selbst von der Kritik nicht aus. Auch er habe die Risiken unterschätzt. Und trotzdem zeugt das Scheitern der Ökonomen seiner Meinung nach von Ignoranz, von „Druck zur Konformität“ und von der „Macht einer dominanten Ideologie“, in diesem Fall die Ideologie von effizienten Finanzmärkten. Zwar habe es vereinzelt Warnungen gegeben, aber wenn, dann sehr unspezifisch. Hinzu komme ein Effekt, den die Psychologen „continuity bias“ nennen: eine Tendenz in unserem Unterbewusstsein, dass die Zukunft der jüngsten Vergangenheit ähneln wird, sprich: dass alles so bleibt, wie es ist.

Auch Wirtschaftshistoriker hätten oft nur den Verlauf der Großen Depression erklärt, aber nicht den Ausbruch. Welchen Einfluss hatten Kapitalströme innerhalb Europas auf seinen wirtschaftlichen Niedergang? Wie hat der naive Glaube, man hätte den Konjunkturzyklus gezähmt, zu weniger Finanzmarktregulierung geführt? Eichengreens These: Hätte man die Geschichte genauer untersucht, dann hätte man vielleicht Fehler vermeiden können.

Mit der kalkulierten Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 hatte die Politik ein Zeichen setzen wollen. Noch im März hatte man eine andere große Investment-Bank, Bear Stearns, vor der Pleite gerettet und dafür massive Kritik einstecken müssen. Bei Lehman entschied man sich gegen eine Rettungsaktion – ein spektakulärer Fehler. Auch hier hätte ein gründlicher Blick zurück in die Geschichte – Stichwort Bankenkrise 1933 in Amerika – vielleicht geholfen, sagt Eichengreen. Stattdessen zog man die falschen Lehren. Die Politik argumentierte wie folgt: Lehman war keine Depositenbank (deposit-taking bank) und hatte keine Kleinanleger (retail depositors) – also könnte eine Pleite von Lehman auch keinen Bankrun auslösen, wie in den Dreißiger Jahren.

 

Eichengreen will noch niedrigere Zinsen

Der Ökonom kritisiert, dass die Regulierung – inklusive des Basel-Abkommens, das Eigenkapitalvorschriften für Banken beinhaltet – zu sehr auf Geschäftsbanken ausgerichtet war. Hedgefonds, Geldmarktfonds und das Schattenbankensystem der Investmentbanken gerieten dabei völlig aus dem Blick. Auch Lehmans Derivate oder die Tatsache, dass Großhandels-Gläubiger (wholesale creditors) Lehman stürmen konnten, fanden keine Beachtung. Und so traf die Politik am 15. September 2008 ihre folgenschwere Entscheidung – nur um einen Tag später zu beschließen, dass nie wieder solch eine Institution wie Lehman pleite gehen durfte.

Eichengreen hält die Maßnahmen, die Politiker und Zentralbanker seitdem getroffen haben, für richtig, aber sie gehen ihm nicht weit genug. Er fordert mehr öffentliche Ausgaben, als die privaten Investitionen einbrachen, und eine (noch) aggressivere Niedrigzinspolitik, um die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln. Er glaubt, er wende sich damit gegen die „deutsche“ Angst vor einer Hyperinflation wendet, ist ihm bewusst. Doch Eichengreen warnt davor, den Blick nur auf die Hyperinflation 1923 zu richten. Er weist auch auf die Dreißiger Jahre hin, als inmitten der Großen Depression Zentralbanken Zinsen nahe null Prozent festlegen konnten, ohne eine große Inflation auszulösen.

Die nächste große Krise sieht er auch schon kommen: In weniger als 80 Jahren sei es so weit, sagt Barry Eichengreen.