Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die moderne Makro ist gar nicht schlecht

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise ist die Volkswirtschaftslehre und hier vor allem die gesamtwirtschaftliche Theorie (Makroökonomie) unter Beschuss geraten. Realitätsfremdheit und Selbstverliebtheit gehören zu den Vorwürfen. Ein neues Buch kommt zu dem Schluss: Ein Verbesserungsbedarf ist unverkennbar, aber ein großer Teil der Kritik bleibt unbegründet.

Vier Kritikpunkte an der modernen Makro dominieren: Erstens wird das Denken der Ökonomen in Gleichgewichten als untauglich bezeichnet, um Krisen zu verstehen. Zweitens habe die Annahme rationaler Erwartungen der Teilnehmer am Wirtschaftsleben mit dem tatsächlichen Verhalten der Menschen nichts zu tun. Drittens führe der Versuch der modernen Makroökonomie, die Theorie einzelwirtschaftlicher Entscheidungen (Mikroökonomie) als Fundament zu nutzen, zu wirklichkeitsfremden und schwer verständlichen Modellen. Und viertens unterschätzten moderne makroökonomische Modelle eklatant die Bedeutung von Geld und Finanzmärkten.

Was ist an dieser Kritik dran? Peter Spahn, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hohenheim, vertritt in einem interessanten Buch die Auffassung, dass nur ein Blick auf die Theoriegeschichte der Makroökonomie eine sinnvolle Diskussion der Frage gestatte. Als erfahrener Makroökonom und Dogmengeschichtler bringt Spahn die Qualifikation für sein Unterfangen mit. Das Ergebnis ist ein sehr kompakt geschriebenes inhalts- und lehrreiches, rund 250 Seiten umfassendes Buch in deutscher Sprache, das solide volkswirtschaftliche Grundkenntnisse erfordert sowie die Bereitschaft, sich auf makroökonomische Modelle einzulassen. An mehr als einer Stelle wäre etwas mehr Raum für eine weiter ausgreifende Erklärung hilfreich gewesen, um dem nicht so versierten Leser den Zugang zu erleichtern.

Von Wicksell zu Keynes

Spahn beginnt mit dem Schweden Knut Wicksell, dessen 1898 erschienenes Buch „Geldzins und Güterpreise“ in seiner Bedeutung für die Makroökonomie bis heute unterschätzt wird. Wicksell hat viele Ökonomen unterschiedlicher Schulen beeinflusst, darunter auch den heutigen Mainstream. (Ein schöner Überblick über die Wirkung Wicksells bis zum Jahre 1978 stammt von Axel Leijonhufvud, der heute um die dominierende Makrotheorie ergänzt werden müsste.1)) Wicksells zentrale Botschaft war nach Ansicht Spahns, dass die Vergabe von Bankkrediten den Zusammenhang von Ersparnis und Investition entscheidend verändert.  Spahn schreibt: “Wicksell thematisiert ein Grundproblem der Geldwirtschaft: die Unbestimmtheit des Preisniveaus. Letztlich ist die Anzahl der Nullen in den Preisen und Löhnen eine pure Konvention. Eine Änderung des Währungsstandards hat keine Konsequenzen für die realen Wirtschaftsabläufe, wohl dagegen graduelle Geldwertverluste im Zuge konjunktureller Expansionsphasen. Gerade weil es keine automatische, durch die Marktkräfte garantierte Rückkehr des Preisniveaus zum Ausgangspunkt gibt und weil die Wirtschaftsakteure wissen, dass der Geldpreis aller Güter, Dienste und Vermögenswerte im Gleichgewicht beliebig ist, können anhaltende Inflationsprozesse zu einem kumulativen, chaotischen Geldwertverlust führen.  Dies ist der scheinbare Widerspruch in der These des ‘neutralen Geldes’: Einerseits ist das Niveau der absoluten Preise für sich genommen ökonomisch irrelevant, seine Sicherung wird jedoch zur Hauptaufgabe der Geldpolitik, weil der Inflationsprozess, der fortlaufende Verlust des Wertstandards, mit gravierenden Allokations- und Verteilungsänderungen einhergeht.”

Eine vollständige gesamtwirtschaftliche Theorie entwickelte der Schwede nicht; sie verbindet sich zuerst mit dem Namen John Maynard Keynes.2) Spahn gibt dem Werk des berühmten Briten viel Platz und zeigt damit dessen Vielschichtigkeit. Sehr zu loben ist, dass er eng an den Originaltexten, vor allem dem Buch „Vom Gelde“ (1930) und der „Allgemeinen Theorie“ (1936), vorgeht. Spahn erwähnt ein bis heute verbreitetes Missverständnis: “Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Theoriegeschichte, dass die Keynessche Theorie heute weithin mit der These assoziiert wird, Arbeitslosigkeit sei eine Folge von Lohnrigiditäten. Dies gilt in Medien und Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft.” Tatsächlich gilt: “Das wichtige Ergebnis der Keynesschen Analyse ist, dass die positiven Effekte von Lohnänderungen nicht – wie in der tradierten neoklassischen Theorie angenommen – unmittelbar über den Arbeitsmarkt und die Profitabilität, sondern über monetäre Beziehungen auf die Güternachfrage wirken, also (bei konstantem Nominallohn) alternativ auch durch die Geldpolitik erreichbar sind. Bei der lohnpolitischen Variante droht zudem die Gefahr kumulativer Instabilität, wenn eine allgemeine Lohn- und Preisdeflation in eine Schuldenkrise übergeht. Aus diesem Grund empfahl Keynes bei allgemeiner Unterbeschäftigung ebendiese strategische Kombination aus Lohnkonstanz und Geldmengenerhöhung – keineswegs war Lohnrigidität seine Erklärung für Arbeitslosigkeit.”3) Spahn macht auch klar, dass Keynes keineswegs als “Gewerkschaftsökonom” und Anhänger einer “kruden Kaufkrafttheorie steigender Löhne” fehlinterpretiert werden dürfe – eine in Deutschland nicht unbekannte Fehinterpretation.

 

Konjunktur als stochastischer Produktionsprozess

Anschließend arbeitet sich der Autor durch die weitere Theoriegeschichte, angefangen mit heute kaum noch erwähnten speziellen keynesianischen Ansätzen, darunter Arbeiten Robert Clowers zur “dualen Entscheidungshypothese”, über den Monetarismus und die “neoklassische Synthese” – die neoklassische Mikrotheorie und einen IS/LM-Keynesianismus zu verbinden suchte – bis zu den Arbeiten von Robert Lucas. Damit treten auch die kontroversen rationalen Erwartungen auf die Bühne, “eine genial-einfache Idee, die zudem die innere Konsistenz der Theorie und die Klarheit ihrer Außendarstellung fördert. Damit wird eine gewisse Beliebigkeit in der Makrotheorie vermieden, die bei der Vielfalt alternativer, interdisziplinär gewinnbarer Erwartungshypothesen unvermeidlich wäre”, schreibt Spahn, der das Konzept aber auch kritisch sieht, unter anderem, weil sich die Wirtschaftstheorie damit noch weiter in die Richtung einer Verhaltenstheorie des Menschen entwickelt habe und damit angreifbar geworden sei.

Besonders interessant wird die Auseinandersetzung Spahns mit der modernen makroökonomischen Theorie, wie sie heute in den Lehrbüchern zu finden ist. Ihr Grundgedanke besteht darin, „die seit Jahrzehnten gepflegte Konvention einer Abgrenzung zwischen Konjunktur- und Wachstumstheorie aufzugeben“ und durch eine Wachstumstheorie zu ersetzen, in denen unvorhersehbare Datenänderungen eine wichtige Rolle spielten: “Konjunktur als stochastischer Produktionsprozess.” Durch das Standardmodell läuft ein Robinson Crusoe, der repräsentativ für die Menschen steht, und seine wirtschaftlichen Alltagsprobleme in einer unsicheren Welt zu lösen versucht.

Das wurde als ein großer Fortschritt verstanden, weil dadurch formal die Verbindung von einzelwirtschaftlichem und gesamtwirtschaftlichem Denken möglich erschien, aber Spahn stellt trocken fest, die neue Form des Arbeitens habe dazu geführt, dass die neue Theorie offenkundige empirische Fakten wie die Reaktion der Wirtschaftsleistung und der Beschäftigung auf geldpolitische Impulse “noch weniger als zuvor” erklären konnte: “Die Hypothese einer von Produktivitäts- und Arbeitsangebotsimpulsen getriebenen Konjunktur entsprang nicht unbedingt empirischen Erfahrungen, sondern einer forschungsstrategischen Absicht: der Norm einer Hinwendung zur mikroökonomisch fundierten Makrotheorie.” Das Grundmodell wurde später unter anderem um Rigiditäten erweitert; auch gibt es längst Modelle, die nicht nur von einem repräsentativen Individuum bevölkert werden. Mit der Einbeziehung von Geld, Banken und Finanzmärkten tat man sich allerdings lange Zeit schwer.

Einfache Modelle müssen nicht schlecht sein

Wie lautet das Fazit? Ein nicht geringer Teil der teils scharfen Kritik an der heutigen makroökonomischen Theorie sei nicht gerechtfertigt, kommentiert Spahn. Die Kritik beruhe zu einem großen Teil auf Missverständnissen. „Gleichgewichtstheorie bildet geradezu den Kern der Volkswirtschaftslehre“, schreibt der Verfasser, der unter anderem an eine Feststellung von Robert Lucas erinnert: “Equilibrium is just a property of the way we look at things, not a property of reality.” Nach Ansicht Spahns ist das seit den achtziger Jahren betriebene „Projekt einer mikrofundierten Makroökonomie als groß angelegter Versuch einer Synthese zu werten, der prinzipiell einen richtigen Weg einschlägt“. Der große Pluspunkt der modernen DSGE-Modelle sei die innere Kohärenz des theoretischen Modells.

Auch wer sich auf einem prinzipiell richtigen Weg befindet, kann sich verlaufen: “Gesamtwirtschaftliche Ergebnisse werden prinzipiell als Resultate rationaler Strategien gedeutet, weil es beliebig erscheint, den Modellakteuren an irgendeinem Punkt ein Abweichen von ihren Optimierungsentscheidungen zu gestatten. Damit werden moderne Theoretiker zu Gefangenen ihrer Modellphilosophie.” Spahn sieht eine Schwäche der heutigen makroökonomischen Theorie in einem „von einem erheblichen Konformitätsdruck“ beeinflussten Drang, immer komplexere Modelle zu entwickeln, die zwar in sich formal schlüssig seien, aber dafür einen Mangel an Realitätsnähe aufwiesen. Daher sieht Spahn den seit einigen Jahren sehr verbreiteten Einbau finanzieller Friktionen in traditionelle Modelle nicht nur als Stärke, denn die Modelle würden dadurch noch komplexer. Wobei Spahn das Thema selbst für sehr wichtig hält: „Gesamtwirtschaftliche Stabilitätsprobleme drohen aber vor allem vom Finanzmarkt.“ Ablehnend äußert sich der Stuttgarter Ökonom gegenüber der Neigung, die ökonomische Theorie durch Ausflüge in die Psychologie zu ergänzen.

Und auch das Denken in Gleichgewichten gelangt an Grenzen: “Unbestreitbar hat Gleichgewichtstheorie einen statischen Bias, auch wenn die Stabilität von Anpassungsprozessen nach Störungen untersucht wird. In der Theoriegeschichte von Wicksell bis Woodford geht es nicht um Wirtschaftsdynamik an sich, weder in wettbewerbs- noch in wachstumstheoretischer Perspektive. Auch Keynes’ Theorie war in diesem Sinne statisch. Veränderungen des langfristigen Steady State bleiben im Hintergrund.” Daraus folgt nicht die Irrelevanz der makroökonomischen Theorie: “Dass die Wirtschaft einem beständigen evolutorischen Wandel unterworfen ist, entwertet nicht gleichgewichtstheoretische Makromodelle – jedenfalls solange nicht, wie die fundamentalen Beziehungen zwischen Geld, Produktion, Arbeit, Konsum und Vermögen qualitativ bestehen bleiben.”

Wo könnte eine Lösung liegen? In einfacheren Modellen, antwortet Spahn, der vor allem den Verzicht auf den Zwang meint, jedes Modell mikroökonomisch zu unterlegen. Dies “eröffnete die Möglichkeit, Interdependenzen zwischen verschiedenartigen gesamtwirtschaftlichen Problemfeldern (Kreditblasen, Variationen der ‘natürlichen Raten’ bei Arbeitslosigkeit, Produktion und Zins) in noch transparenter Weise herauszuarbeiten.”4) In theoretischer Hinsicht spreche vieles dafür, das in früheren Jahrzehnten stärker diskutierte Thema des Zusammenhangs zwischen Einkommensverteilung, Kredit- und Güternachfrage wieder aufzugreifen. Ob die Theorie diesen Weg gehen wird, ist offen. Aber darüber nachdenken kann man sehr wohl – ebenso wie über Spahns Feststellung, dass viele wirtschaftspolitische Fehlleistungen der jüngeren Vergangenheit im Widerspruch zu Folgerungen aus dem oft verdammten makroökonomischen Mainstream standen.

 


  1. Die “Bibel” der modernen monetären Makrotheorie ist Michael Woodfords “Interest and Prices” (2003). Die Ähnlichkeit des Titels mit Wicksells “Geldzins und Güterpreise” ist kaum zufällig.
  2. Die Hayek’sche Überinvestitionstheorie wird kurz erwähnt. Spahn nennt einen wesentlichen Grund, warum sie im Mainstream heute praktisch keine Rolle spielt: “Zudem wird heute eine Konstellation halbfertiger Produktionsprozess auf der einen und Kapazitätsengpässe auf der anderen Seite als sektorales Anpassungsproblem verstanden, das sich im Wettbewerb von selbst löst. Eine makroökonomische Krise kann Hayek daraus nur mit der Annahme technischer Friktionen konstruieren, die einen flexiblen Transfer von Produktionsfaktoren zwischen den Sektoren verhindern.” Zu ergänzen wäre vielleicht, dass es heute, unter anderem von Rognlie/Schleifer/Simsek sowie von Portier & Co, Modelle gibt, die Hayek’sche Überinvestition mit keynesianischen Friktionen kombinieren. Rognlie/Shleifer/Simsek schreiben: “The Hayekian view, however, faces a challenge in explaining how low investment in the liquidating sector reduces aggregate output and employment. As noted by Krugman (1998), the economy has a natural adjustment mechanism that facilitates the reallocation of labor (and other productive resources) from the liquidating sector to other sectors. As economic activity in the liquidating sector declines, the interest rate falls and stimulates spending in other sectors, which keeps employment from falling. This reallocation process can be associated with some increase in frictional unemployment. But it is unclear in the Austrian theory how employment can fall in both the liquidating and the nonliquidating sectors, which seems to be the case for major recessions such as the Great Recession. To fit that evidence, an additional Keynesian aggregate demand mechanism is needed.”
  3. Don Patinkin schrieb schon vor Jahrzehnten, wäre mangelnde Lohnflexibilität als Krisenursache die Hauptbotschaft von Keynes’ “General Theory” gewesen, hätte das Buch keine Aufmerksamkeit verdient: “Denn die Tatsache, dass eine solche Starrheit Unterbeschäftigung hervorrufen kann, war ein Gemeinplatz der klassischen Makroökonomie.”
  4. Spahn nennt hier keine konkreten Modelle. An anderer Stelle schreibt er : “Als Kritik am IS/LM-Modell präsentierte Tobin ein umfassendes Strom-Bestands-Modell unter Berücksichtigung mehrerer Vermögensaktiva, substitutiver Portfoliostrukturen und sämtlicher Budgetbeschränkungen der Wirtschaftssubjekte… Das Prinzip der vollständigen Erfassung aller Sektoren einer Volkswirtschaft und ihrer Transaktionsbeziehungen erzwingt – um eine Lösbarkeit der komplexen Systeme zu ermöglichen – eine eher sparsame Modellierung des Marktverhaltens der Subjekte… Demgegenüber halten die der neoklassischen Tradition verpflichteten Ansätze  an der zentralen Rolle der Optimierungsentscheidungen fest (und nehmen im Gegenzug eher Abstriche bei der Komplexität der Modellstruktur hin).” Das erwähnte Modell Tobins wurde von diesem in seiner Nobelpreisvorlesung erstmals vorgestellt. Wer denkt, dass dies tot ist, irrt: Tobin LIVES.

Eine kürzere Version dieses Beitrags ist am 6. Juni 2016 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.