Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Maastricht: Wunsch und Wirklichkeit

Ein französisches Sprichwort besagt: Je mehr sich die Dinge ändern, um so mehr bleiben sie gleich. Stimmt das? Ein kurzer Blick auf die Europäische Währungsunion.1)

Perzeptionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts2)

Im Anfang der neunziger Jahre beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt geht es in erster Linie um Regelungen zur Finanzpolitik in der Europäischen Währungsunion. Alle Beteiligten haben sich von diesem Pakt eine Reduzierung von Unsicherheit und Risiken in der Währungsunion versprochen, aber von Vornherein war eine Ambivalenz erkennbar. Denn für Deutschland war der Stabilitäts- und Wachstumspakt in erster Linie ein STABILITÄTSPAKT, mit dem zu expansive Finanzpolitik von Mitgliedsländern verhindert werden sollte. Für Frankreich war der Stabilitäts- und Wachstumspakt in erster Linie ein WACHSTUMSPAKT, der es auch ermöglichen sollte, durch expansive Finanzpolitik das Wirtschaftswachstum zu fördern. Da sich in Maastricht wesentlich die deutsche Position durchsetzte, werfen wir einen kleinen Blick auf sie.

Die deutsche Absicht bestand darin, starke institutionelle Regeln zu verankern, um eine – aus deutscher Sicht – unseriöse Finanzpolitik von Mitgliedsländern zu verhindern. Denn eine unseriöse Finanzpolitik kann eine hohe Inflation zur Folge haben. Regeln sind aus deutscher Sicht wichtig, um aus kurzfristigem Handeln entstehende Probleme (“Moral Hazard”) zu verhindern. Wie sollte dies geschehen? Hier ist eine Auswahl der Regeln.

  • Durch eine Begrenzung der jährlichen Neuverschuldung auf maximal 3 Prozent des BIP
  • Durch eine Verpflichtung der Geldpolitik zur Preisniveaustabilität soll verhindert werden, dass die Zentralbank hohe Staatsschulden weginflationiert
  • Durch ein Verbot monetärer Staatsfinanzierung durch die Geldpolitik
  • Durch die No-Bail-out-Regel

Das bedeutet: Im Falle einer Überschuldung eines Landes steht nur die Option einer nationalen Insolvenz zur Verfügung. Eine Fiskal- oder Transferunion ist nicht vorgesehen; gemeinschaftliche Haftung und Risikoübernahme sind dem Konzept fremd.

Wunsch und Wirklichkeit

Schaut man sich die Entwicklung an, ist leicht erkennbar: Fast alles ist anders gekommen als erwartet!

Wir haben:

  • Zahlreiche Verletzungen der 3-Prozent-Regel
  • Die No-Bail-out-Regel wurde mehrfach nicht beachtet. Wir haben de facto gemeinschaftliche Haftung und Risikoübernahme und damit in gewisser Weise zumindest Elemente einer Transferunion
  • Gerichte sind dabei zu klären, ob das Anleihekaufprogramm der EZB gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstößt.

Eines ist allerdings entgegen vieler Befürchtungen gerade in Deutschland ausgeblieben: Es gibt keine bedeutende Inflation.

 

Warum ist es so gekommen?

Eine umfassende Ursachenanalyse kann hier nicht das Ziel sein. Statt dessen sollen wenige Punkte betrachtet werden, von denen mehrere in der deutschen Debatte meist nicht an vorderster Stelle stehen.

 

a) Widersprüchliche Regeln

Die internationalen Eigenkapitalregeln verpflichten Banken, Eigenkapital in Relation zu ihren risikobehafteten Assets zu bilden. Allerdings sind Staatsanleihen davon ausgenommen, weil sie der Regulierer als ein sicheres Asset betrachtet. Dies hat in der Praxis zu einer engen Verbindung von Banken und Staaten geführt, die von vielen Fachleuten als ein zentrales Problem der Eurozone betrachtet wird. Die regulatorische Behandlung von Staatsanleihen als sichere Assets steht in direktem Widerspruch zu der Idee, dass der einzige Weg im Falle der Überschuldung eines Euro-Mitgliedslandes die nationale Insolvenz ist.

 

b) Ein erschütterndes Unverständnis von Finanzmärkten3)

  • Die Teilnehmer an den Finanzmärkten haben die No-Bail-out-Regel von Anfang an nicht ernstgenommen (und erst in der Euro-Krise kurz hinterfragt), wie die Angleichung der Renditeunterschiede von Staatsanleihen, die schon vor 1999 begann, dokumentiert. Darüber sollte sich niemand wundern. Eine Rolle spielte hierfür die oben erwähnte regulatorische Behandlung von Staatsanleihen als risikofreien Kapitalanlagen. Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung der No-Bail-out-Regeln an den Märkten liegt in der anglo-amerikanischen Prägung vieler ihrer Teilnehmer. Nach diesem Verständnis – das nicht dem traditionellen deutschen Verständnis entspricht – ist die Zentralbank “ein Kreditgeber der letzten Instanz”, und zwar nicht nur im Falle illiquider Banken, sondern auch im Falle einer drohenden Zahlungsunfähigkeit des eigenen Staates.4) Das zeigt sich zum Beispiel in den Grundlagen der Preisbildung an Finanzmärkten (“Asset Pricing”): Theorie und Praxis berufen auf der Unterscheidung von “Debt” (risikoloser Staatschuld) und “Credit” (risikobehafteten anderen Schulden wie beispielsweise Unternehmensanleihen). Die Verbindung zwischen Stabilität des Finanzsystems und der Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung ist umso enger, je stärker die Banken Halter von Staatsanleihen sind. 5) Die Idee, der Kapitalmarkt werde unsolide Schuldner mit Risikoaufschlägen betrafen, steht gerade bei den Staatsanleihenmärkten von Industrienationen auf schwankendem Grund.
  • Eine der Lektionen der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise besteht in der Ausbreitung von Krisen von einem Segment des Finanzmarkts auf andere Segmente. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise funktionierten von den Anleihemärkten praktisch nur noch die Märkte für amerikanische und deutsche Staatsanleihen. Diese Ansteckungseffekte sind in den Jahren vor der Finanzkrise nicht gesehen worden; sie tauchten dann auch in der Eurokrise auf. Diese Ansteckungseffekte bilden eine Herausforderung für die Idee, in einer Währungsunion ließen sich nationale Insolvenzen problemlos durchführen.

 

c) Die wirkmächtigsten Wörter in der Geschichte der Geldpolitik

Gesprochen am 26. Juli 2012: “Within our Mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me, it will be enough.” (Mario Draghi). Nach Draghis Rede und dem der nachfolgenden Ankündigung des OMT-Programms gingen die vorher in der Eurokrise auseinandergelaufenen Renditespreads europäischer Staatsanleihen wieder zusammen. “Draghi’s announcement of the ‘outright monetary transactions program’, or OMT, was a real game-changer: Notwithstanding that government debt ratios have steadily risen since, risk spreads of the peripheral countries were considerably reduced.” (Homburg 2017)

Das OMT-Programm hat eine veränderte Wahrnehmung der EZB vorangetrieben: Galt sie in ihren ersten Jahren vielerorts als eine Art “Klon” der Deutschen Bundesbank, hat sie sich im Laufe der Jahre stärker zu einer Notenbank amerikanischen Typs entwickelt, die vorbehaltloser in Märkte eingreift. Das im Frühjahr 2015 begonnene allgemeine Anleihenkaufprogramm hat diese Entwicklung fortgesetzt.

Versuchen aus Deutschland, diese Mutation der EZB durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aufzuhalten, ist bis heute keine durchschlagender Erfolg beschieden. Das OMT-Programm wurde juristisch eingehegt, aber nicht verboten. Die juristische Prüfung des allgemeinen Anleihekaufprogramms steht noch aus, aber es wäre erstaunlich, wenn dort mehr als eine Einhegung  herauskäme. Aus ökonomischer Sicht stieße eine fundamentalistische Auffassung, nach der Anleihekäufe einer Notenbank per Definition unzulässig seien, nicht nur außerhalb Deutschlands auf weit verbreitetes Unverständnis. Sie würde auch in Deutschland nicht einmal von allen EZB-kritischen Ökonomen geteilt, wie sich zum Beispiel an Äußerungen Volker Wielands zeigen lässt.

Wie andere Zentralbanken in und nach der Finanzkrise hat die EZB in den vergangenen Jahren ihr Mandat zumindest gedehnt und nach Ansicht von Kritikern überdehnt. Zeitweise schien die EZB die einzige handlungsfähige wirtschaftspolitische Institution in der Eurozone zu sein. Wie die EZB und die anderen Zentralbanken, die in den vergangenen Jahren eine sehr expansive Geldpolitik betrieben haben, aus dem Krisenmodus heraus und in einen Normalmodus hinein kommen, ist ein vieldiskutiertes Thema, über dessen Ausgang sich gegenwärtig nur spekulieren lässt.

 

d) Die Deutschen sind nicht so deutsch, wie man manchmal denkt.

  • Der Fluch des Sünders: Die ersten Länder, die gegen die 3-Prozent-Regel der Neuverschuldung verstießen, waren in den Jahren 2002 und 2003 ausgerechnet Deutschland und Frankreich! Besonders der Verstoß durch Deutschland lud zur Nachahmung ein, da Deutschland sich ursprünglich als Musterknabe geriert hatte und das Verfahren wegen der zu hohen Neuverschuldung im Jahre 2007 ohne Folgen eingestellt wurde. Danach war der Damm gebrochen. Mittlerweile hat die Mehrzahl der Unterzeichner des Maastricht-Vertrags gegen das 3-Prozent-Kriterium verstoßen (manche mehrfach), ohne dass schmerzhafte Sanktionen der Fall gewesen wären. Das ist nicht erstaunlich, da im übertragenen Sinne Sünder über Sünder richten. Man muss kein Jurist sein, um zu vermuten, dass solche Prozesse mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem Freispruch enden.
  • TINA (“There is no alternative”): Die Bundesregierung hat in der Eurokrise der Schaffung von Institutionen wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zugestimmt, die de facto Elemente gemeinsamer Haftung und gemeinsamer Risikoübernahme besitzen.6) Sie hat auch – zumeist hinter verschlossenen Türen – zumindest im Grundsatz die Geldpolitik der EZB mittragen. Man kann mit Brunnermeier/James/Landau durchaus die These vertreten, dass Draghis “Whatever-it-takes”-Strategie ohne die stillschweigende Billigung durch Berlin zumindest einen Teil ihrer Wirksamkeit nicht erlangt hätte.

 

Immer so weiter?

Während sich in der Eurozone derzeit ein unerwartet starker und inflationsarmer Konjunkturaufschwung entwickelt, sind die politischen und wirtschaftlichen Kosten der Eurokrise und ihrer Bekämpfung noch nicht in Gänze absehbar. In Berlin und in Paris scheint es zwar einen Konsens darüber zu geben, dass ein grundlegender Austausch über die Funktionsweise der Eurozone notwendig ist. Aber es muss sich weisen, inwieweit die beiden Länder an ihren jeweiligen Positionen festhalten, mit denen sie in die Währungsunion gegangen sind. Solange keine neue Bundesregierung gebildet ist, bleibt alles Spekulation. Die deutsche Idee, eine stärkere Integration mit einer besseren Überwachung der nationalen Finanzpolitik zu verbinden, führt ebenso in die Zeit des Maastricht-Vertrags wie die Vorstellung Emmanuel Macrons, ein zu schaffender europäischer Finanzminister benötige ein ansehnliches Budget, um damit das Wirtschaftswachstum zu fördern. 7)

Der unvergessene Marcel Reich-Ranicki pflegte seine Fernsehsendung mit einem Brecht-Zitat zu beenden: “Und so sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.”

Mehr können wir heute auch nicht tun.

 

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  1. Dieser Text beruht auf aktualisierten und erweiterten Notizen, die ich Mitte September – also vor der Bundestagswahl und vor Emmanuel Macrons Europa-Rede – für einen kleinen Vortrag im Rahmen des Transatlantic Law Forum an der George Mason University in Arlington/Virgina vorbereitet hatte.
  2. Dieser Abschnitt ist durch die Darstellung im Euro-Buch von Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau beeinflusst.
  3. So kommen im Anti-Euro-Manifest deutscher Professoren aus dem Jahre 1992 Finanzmärkte überhaupt nicht vor. Dafür findet man in dem Manifest unter anderem diese Prognose: “Die europäische Zentralbank wird – trotz weitgehender Unabhängigkeit – Preisstabilität in Europa nicht durchsetzen, weil es für sie aufgrund unterschiedlicher Interessen der nationalen Entscheidungsträger keinen genügend starken Anreiz gibt, dies zu wollen.”
  4. Die Gefahr der Inanspruchnahme der Geldpolitik durch die Finanzpolitik (“Fiskaldominanz”) ist weder eine neues noch ein speziell deutsches Thema, wie ein bekanntes Zitat von Mervyn King aus dem Jahre 1995 belegt: “Central banks are often accused of being obsessed by inflation. This is untrue. If they are obsessed by anything, it is with fiscal policy.”
  5. Die Überzeugung, dass Preisniveaustabilität, Finanzstabilität und Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung miteinander verbundene und nicht, wie die traditionelle Auffassung lehrt, getrennte Konzepte sind, wird in der modernen Fachliteratur vor allem  von Brunnermeier/Sannikov betont; eine Zusammenfassung des Gedankengangs findet sich hier.
  6. Im Gegenzug setzte die Bundesregierung  durch, dass im Falle Griechenlands im März 2012 das von Deutschland in Maastricht verfochtene Konzept einer nationalen Insolvenz mit einem Schuldenschnitt und der Beteiligung privater Gläubiger Anwendung fand. Die darauffolgende Unruhe an den Finanzmärkten führte vier Monate später zu Draghis Londoner Rede.
  7. Ein Vorschlag, aus den jeweilige nationalen Denktraditionen zumindest einen Schritt auszubrechen, stammt von 15 deutschen und französischen Ökonomen, der zeitgleich in der F.A.Z. und in Le Monde veröffentlicht worden ist.