Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

So ängstlich sind wir gar nicht

© Picture AllianceBauarbeiter in Dresden.

Verhaltensökonomen ziehen aus Ängsten die falschen Schlüsse. Was sind ihre Theorien wert? Von Winand von Petersdorff

Eine der zentralen Vorstellungen der Verhaltensökonomie hat zwei Teile. Sie besagt zum einen, Menschen trögen an Verlusten schwerer, als sie sich durch Gewinne in gleicher Betragshöhe entlastet fühlten: 1000 Dollar im Minus wögen schwerer als 1000 Dollar im Plus. Das zweite Element dieser Idee ist, dass diese sogenannte Verlustaversion irrational sei.

Daniel Kahneman und Richard Thaler sind die prominentesten unter den Forschern, die diese Vorstellung groß gemacht haben. Thaler machte die grobe Schätzung, dass Verluste doppelt so weh tun wie Gewinne uns guttun. Auf das Konzept der Verlustaversion werden gleich mehrere vermeintliche Entscheidungsfehler zurückgeführt, die zentral für die Verhaltensökonomie sind: Die Status-quo-Verzerrung der Endowment-Effekt und der Dispositions-Effekt.

Die Vorstellung der Verlustaversion kämpft allerdings mit gleich drei schwerwiegenden Problemen: Das erste hat etwas mit Empirie zu tun. Das zweite Problem hängt mit dem (Un-)Verständnis von Wahrscheinlichkeiten zusammen. Und das dritte ist ethischer Natur.

Zweifel am Prinzip Verlustaversion

Der Reihe nach. Zuletzt erschienen zwei große Studien, die aufgestaute Zweifel am Konzept der Verlustaversion als generelles Prinzip bündeln. Der israelische Forscher Eldad Yechiam hat 24 Studien durchleuchtet, in denen Menschen Entscheidungen zu fällen hatten mit ungewissen Konsequenzen. In 20 davon fand Yechiam keine Verlustaversion vor. In nur vier Studien fanden sich Hinweise auf Verlustaversion. In drei davon ging es aber um große Geldsummen, was die Vermutung nahelegt, dass generelle Risikoscheu statt Verlustangst die Ursache sein könnte.

Ein zentrales Prinzip der Verhaltensökonomie steckt damit in der Replikationskrise: Es kann durch Experimente nicht bestätigt werden. Yechiam zufolge haben Kahneman und sein Kollege Amos Tversky unsauber gearbeitet. Sie haben aus Studien Verlustaversionen herausgelesen, wo es keine gab. Und Studien außen vorgelassen, die ihre These nicht bestätigten. Und schließlich haben sie schwache empirische Ergebnisse überinterpretiert. Das Forscherduo David Gal und Derek Rucker sieht ebenfalls keinen empirischen Beleg für die Existenz der Verlustaversion. Sie zeigen, dass Verhaltensweisen oft ganz anders interpretiert werden können. In einem bekannten Kahneman-Thaler-Experiment verlangen die Probanden sieben Dollar für einen Kaffeebecher, der ihnen gehört. Selbst sind sie aber nur bereit, drei Dollar für den gleichen Becher zu bezahlen. Die Kahneman/Thaler-Jünger deuten die Verhaltensweise als Beleg für Verlustaversion: Der Verlust des Bechers ist den Probanden sieben Dollar wert, der Erwerb nur drei Dollar. Die alternative ebenfalls einleuchtende Interpretation lautet, dass die Leute einfach Aktivität vermeiden wollen.

Kritik aus der Mathematik

Die nächste noch schwerere Breitseite gegen die Vorstellung der Verlustaversion kommt aus der Mathematik. Die Physiker Ole Peters und Murray Gell-Mann und der Finanzmathematiker Nassim Nicolas Taleb sagen, das ganze Konzept sei fundamental falsch. Ole Peters präsentiert zum Beleg ein Münzwurf-Spiel. Ein Spieler erhält 100 Dollar, die er komplett auf Adler setzt. Die Regel des Spiels lautet: Kommt Adler, erhält er 50 Prozent auf den eingesetzten Betrag, kommt aber Zahl, verliert er nur 40 Prozent des Einsatzes. Der Spieler spielt fünfmal, und zwar jedes Mal mit dem vollen Einsatz, der nach dem letzten Spiel geblieben ist. Das Ergebnis lässt kein Muster erkennen. Also lässt Peters mit Computerhilfe eine Million Spieler spielen und ermittelt ein Durchschnittsergebnis. Das zeigt einen deutlichen Gewinn. Die Verlustaversionstheoretiker würden ihren Schützlingen dringend die Mitwirkung anraten wegen des positiven Erwartungswertes.

Das Problem ist aber, dass der ermittelte Durchschnittswert keine Relevanz für den Einzelnen hat. Denn ein Spieler folgt nur seiner eigenen Sequenz von Münzwürfen und Einsätzen. Er kann nicht in alternative Sequenzen oder Welten hüpfen. Der Durchschnittswert aus den Ergebnissen einer Million Spieler sagt nichts aus über das Spielschicksal eines einzelnen Spielers. Peters lässt stattdessen einen Spieler viele Stunden nach der gleichen Vorgabe spielen. Das überraschende Ergebnis lautet, dass der Spieler über lange Zeit zwangsläufig verliert. Sein Einsatz verschwindet.

Die Population von einer Million Spieler gewinnt im Schnitt nur deshalb, weil einige wenige vorübergehend reich werden, während ein großer Teil der Spieler schnell bankrott ist. Den zwingenden Abwärtstrend macht man sich klar, wenn man annimmt, dass man so oft gewinnt wie man verliert. Klingt profitabel, doch der Spieler hat in einer Sequenz mit gleich vielen Gewinnen und Verlusten einen Teil seines Einsatzes verloren. Ohne Geld aber ist ein Comeback ausgeschlossen.

Es geht nicht um Verlustaversion, sondern darum, sich nicht zu ruinieren

Die Verhaltensökonomen scheinen eine geradezu triviale Grundregel übersehen, die Warren Buffett so knackig formuliert hat: “Um Erfolg zu haben, muss man erst einmal überleben.” Für Investoren heißt das, den Ruin um jeden Preis zu vermeiden. Diese Dynamik ändert die rationale Entscheidungsstrategie. Denn Verluste wiegen tatsächlich schwerer als Gewinne. Was als Verlustaversion daher kommt, ist tatsächlich die höchst rationale Abneigung, sich zu selbst ruinieren.

Im praktischen Leben wird das schnell klar. Ein normaler Mensch hat im Gegensatz zu den Labor-Probanden zum Beispiel unterhaltsabhängige Kinder an der Universität, ein Auto, dem große Reparaturen drohen, und ein kränkelndes Elternteil, für das ein bezahlbares Altersheim gesucht wird. Diese Umstände bedingen ein Risikoprofil, das Entscheidungen und Einstellungen prägt. Jeder Mensch schleppt ein Bündel Risiken mit sich herum. Aus seinem Entscheidungsverhalten in einer einzelnen Situation kann deshalb sein Risikoverhalten gar nicht abgelesen und schon gar nicht auf eine neurotische Verlustaversion geschlossen werden.

Das bringt uns zum ethischen Problem: Dank der Bemühungen der Verhaltensökonomen hat sich bei vielen die Vorstellung eingenistet, dass der Mensch versagt, wenn es um Risiken geht. Deshalb müsse man ihn von der Wiege bis zur Bahre manipulieren, auf dass er rationale Entscheidungen fälle. Entsprechende Regierungskommissionen sind eingerichtet und besetzt mit Verhaltensökonomen, von denen leider nicht ganz klar ist, ob sie die wirkliche Welt begriffen haben.