Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Bloß kein Ende mit Schrecken

Ein Schrecken ohne Ende ist irre teuer. Wir entscheiden uns trotzdem oft dafür. Von Jürgen Kaube

Als der amerikanische Ökonom Orley Ashenfelter zum ersten Mal eine Auktion von Bordeaux-Weinen besuchte, machte er eine Beobachtung, die ihn irritierte. Eine Kiste mit zwölf Flaschen Chateau Palmer von 1961 ging innerhalb von Sekunden für 920 englische Pfund weg. Die nächste Kiste des gleichen Weines erzielte 800 Pfund, der dritte Käufer erhielt den Zuschlag bei 700 Pfund. Wo waren bei der zweiten und dritten Kiste diejenigen geblieben, die, als es um die erste ging, bei 900 Pfund noch dabei waren? Und hätte der Preis nicht sogar eher noch steigen müssen, da doch der verfügbare Wein in der letzten Auktion knapper war als in der ersten?

Wenn man nicht annehmen will, dass es von Anfang an überhaupt nur drei Kunden mit den entsprechenden Zahlungsbereitschaften gab, gibt der Auktionsverlauf ein Rätsel auf. Umso mehr, als Ashenfelter notierte, dass sich niemand im Saal darüber wunderte – und das Muster auch bei sehr vielen Auktionen von identischen Gütern auftritt. Seit Ashenfelters Beitrag von 1989 sind viele Erklärungen dafür versucht worden. Die meisten davon operierten mit sehr speziellen Annahmen über die Risikobereitschaft und die unterschiedlichen Budgets der Bieter, über die Kosten der Teilnahme an der Auktion oder über eine nur wahrscheinliche, aber nicht sichere Identität der Ware. Wirklich befriedigend war keines dieser Modelle.

In einem unpublizierten Manuskript hat der an der London School of Economics lehrende Ökonom Erik Eyster nun eine entscheidungspsychologische Deutung der Auktions-Anomalie vorgeschlagen. Ihr Ausgangspunkt ist die Neigung vieler Menschen, bei Entscheidungen nicht nur auf die gegenwärtige Lage und nach vorne, sondern auch in die Vergangenheit zu schauen. Man möchte nicht nur richtig entscheiden, sondern auch in Bezug auf vorherige Festlegungen konsistent erscheinen. Ökonomen hat das seit jeher verwundert. Denn wer in der Vergangenheit einen Fehler gemacht hat, bekommt das dabei Verlorene durch Festhalten am eingeschlagenen Kurs oft nicht zurück. Die Ökonomen sprechen von “sunk costs”, versunkenen Kosten, und raten beispielsweise, Gebäude, die sich als zu teuer im Bau erwiesen haben, etwa Flughäfen, nicht zu Ende zu bauen, wenn der einzige Grund dafür ist, dass man einmal damit angefangen hat.

Tatsächlich gibt es viele Situationen, in denen irrelevante Vergangenheiten gegenwärtige Entscheidungen beeinflussen. So stehen Verkäufe an der Börse mitunter stark unter dem Eindruck des einstigen Kaufpreises. Wer teuer eingekauft hat, trennt sich nachweislich nicht so leicht vom Objekt. Empirische Studien haben gezeigt, dass die Höhe des Preises einer Theater- oder Konzertkarte mit der Wahrscheinlichkeit zusammenhängt, dass die Käufer die Vorstellungen auch tatsächlich besuchen. Speisen werden gegessen, weil sie bestellt wurden – und zwar eher die teuren Bestellungen als die günstigen, selbst wenn die Leute vorher angaben, dass sie im Zweifel Pasta Kaviar vorziehen. Selbst für Basketballspiele in der amerikanischen Profiliga wurde nachgewiesen, dass Spieler, die teuer waren, auch dann öfter eingesetzt werden, wenn ihre Leistung sich von weniger teuren Spielern nicht unterscheidet.

In der Management-Theorie ist das Thema unter dem Titel “Eskalierende Festlegung” bekannt: Eine Firma hat viel in die Entwicklung eines Produktes gesteckt, weswegen sie sich von Schwierigkeiten am Markt nicht beeindrucken lässt. Es wird auf eine positive Entwicklung gewartet, auch wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie eintreten wird. Im schlimmsten Fall kommt es zur immer stärkeren Bindung an einen einmal beschrittenen Pfad. Man hat das Gefühl, viel zu viel investiert zu haben, um eine Sache wieder abzublasen. Das führt zu weiteren Investitionen und also zu noch stärkerer Bindung an Entscheidungen der Vergangenheit.

Das gilt selbstverständlich auch umgekehrt: Wer das Gefühl hat, in eine Sache zu wenig investiert zu haben, wird womöglich auch im Weiteren weniger für sie tun, als sinnvoll wäre – nur um die einstige Zurückhaltung zu rechtfertigen. Das vergangene Verhalten wird rationalisiert, eine spätere Entscheidung dient zu hohen Anteilen dazu, eine frühere Entscheidung als richtig dastehen zu lassen. Nicht die Aussichten werden optimiert, das Bedauern wird minimiert.

Der materielle Verlust wird also gegen den “psychologischen” Verlust aufgerechnet. Eine Selbstfestlegung aufzugeben stellt für viele auch eine Art Kosten dar, zumal wenn an die Selbstfestlegung die Einschätzung durch andere gebunden ist. Wie stehe ich denn da, wenn ich nachgebe? So kommt es zu dem berühmten, erstmals von Maurice Allais festgehaltenen Paradox, dass Befragte es vorziehen, eine Million Euro sicher zu bekommen, anstatt eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit auf fünf Millionen zu haben bei einem zehnprozentigen Risiko, ganz leer auszugehen. Dieselben Leute nehmen aber lieber an einer Lotterie teil, die ihnen in neun von hundert Fällen 5 Millionen und in allen anderen nichts einbringt, als an einer, in der sie in zehn von hundert Fällen eine Million erhalten und zu neunzig Prozent nichts. Durchgerechnet ist das irrational. Die Erklärung dafür könnte sein, dass die sichere Mitnahme der einen Million im Nachhinein zu keinerlei Bedauern führen kann, da der Ausgang nicht gespielter Spiele auch nicht bedauert werden muss.

Eyster wendet diese Ökonomie des Bedauerns unter anderem auf das Suchverhalten am Arbeitsmarkt an: Wer mit einer bestimmten Lohn- oder Gehaltserwartung auf die Jobsuche geht und erste Angebote ausschlägt, weil sie unter diesen Erwartungen liegen, sucht eventuell zu lange, weil diese erste Ablehnung eines Angebots nicht bedauert werden soll. Jede weitere Suche aber vermehrt die Anlässe für Bedauern, so dass die Wahrscheinlichkeit, einen Job anzunehmen, weiter sinkt und das Zögern zu einem Habitus wird.

So lässt sich auch die Anomalie der Weinauktion erklären. Wer in der ersten Runde hoch geboten hat, aber unterlag – sprich: “zu wenig investiert hat” -, rationalisiert dieses Verhalten nachträglich durch geringere Gebote in der zweiten und der dritten Runde. Umgekehrt formuliert: Würde der Preis bei der zweiten oder dritten Auktionsrunde steigen, würden alle, die den Zuschlag bekämen, ihren Kauf bereuen. Wenn man hingegen in der zweiten Auktion deutlich weniger bietet, rechtfertigt man seine Niederlage in der ersten. Wenn alle so denken, fällt der Preis. Die Meinung ist eine Tochter der Handlung, nicht umgekehrt.

 

Literatur:

Orley Ashenfelter: “How Auctions Work for Wine and Art”, Journal of Economic Perspectives 3 (1989)

Erik Eyster: “Rationalizing the Past: A Taste for Consistency”, www.lse.ac.uk/economics/people/personal/erik-eyster-publications-and-papers