Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Mädchen, lernt mehr Mathe!

In Ostdeutschland können Mädchen besser rechnen als im Westen. Woran mag das nur liegen? Von Jürgen Kaube

Vor 25 Jahren lag der Anteil der weiblichen Studenten an deutschen Hochschulen noch knapp unter 40 Prozent. Zehn Jahre später war die Lücke fast geschlossen, und es studierten anteilsmäßig fast so viele Frauen, wie in einem Jahrgang vertreten sind, nämlich knapp 50 Prozent. In manchen Fächern, von der Jurisprudenz bis zur Medizin, liegen die Anteile inzwischen deutlich höher, von Kunstgeschichte, Psychologie oder Germanistik ganz zu schweigen.

Nur in Studiengängen, die viel Mathematik voraussetzen, ist es anders. In der Physik entfallen zurzeit etwa 20 Prozent der Studienabschlüsse auf Frauen, wobei das Lehramt stark dominiert. Etwas ältere Zählungen der Chemiker von 2013 kamen auf stagnierende 40 Prozent. Bei den Bauingenieuren machen Frauen nur ein gutes Viertel der Studenten aus, bei den Wirtschaftsingenieuren verhält es sich ähnlich. In der Informatik ist es nicht einmal ein Fünftel, im Maschinenbau ein Zehntel.

Auch in der Mathematik greift dasselbe Muster. Von zehn Studenten, die sich für Mathematik im Lehramt der Grundschule einschreiben, sind acht Frauen. Geht es ums Lehramt an Gymnasien, sind es fünf. In Mathematik außerhalb des Lehramts kommen dann nur noch drei Frauen auf sieben Männer.

Dieses Muster der Studienfachwahl schlägt sich nicht zuletzt in den geschlechtsspezifischen Einkommensprofilen nieder. Wie Francine Blau und Lawrence Kahn von der amerikanischen Cornell-Universität kürzlich in ihrem Überblick zum “Gender-Wage-Gap” gezeigt haben, erhalten Frauen über alle Berufe hinweg derzeit etwa 80 Prozent dessen, was Männer verdienen. Auf die Verweildauer im Arbeitsmarkt geht das kaum mehr zurück und auf die Höhe des Bildungsabschlusses ebenfalls nicht. Aber eben unter anderem auf die studierten Fächer. Denn Ingenieure verdienen durchschnittlich mehr als Pädagogen, Physiker mehr als Psychologen.

Woran liegt es, dass Frauen in den Mathematik-nahen Berufen und Studienfächern weniger stark vertreten sind? Als der Ökonom Lawrence Summers 2005 auf einer Konferenz zum Thema etwas freihändig darüber spekulierte, es könnten dafür im Bereich der mathematischen Leistungsfähigkeit geschlechtsspezifische Begabungen ursächlich sein, war er nach heftigen Diskussionen ein Jahr später seinen Posten als Präsident der Harvard-Universität los. Tatsächlich hat sich die Forschung bislang nicht einigen können, ob die Hypothese zutrifft, dass Männer sowohl unter den ganz schlechten wie unter den sehr guten “Rechnern” stärker vertreten sind. Hinzu kommt die Frage, ob man, um ein Ingenieurstudium erfolgreich abzuschließen, überhaupt sehr gut in Mathematik sein muss oder ob nicht solide Leistungen genügen.

Zwei französische Ökonomen haben jetzt anhand eines in Deutschland durchgeführten Experiments untersucht, ob der Studien- und Berufswahl nicht vielmehr rationale Kalküle zugrundeliegen. Das Experiment ist die Wiedervereinigung. In den ostdeutschen Bundesländern, so weisen die Forscher nämlich nach, ist die Distanz von jungen Frauen gegenüber Mathematik weit weniger ausgeprägt als im Westen des Landes. Die Mädchen haben dort auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer bessere Noten in Mathematik, teilen weniger Reserven gegenüber dem Fach mit, fühlen sich weniger durch das Fach gestresst und trauen sich mehr in ihm zu. Insgesamt unterscheiden sie sich weniger stark von ihren männlichen Mitschülern, als das bei Schülerinnen im Westen der Fall ist. All das geht übrigens nicht mit Defiziten bei den sprachlichen Leistungen einher.

Mehr Schulstunden in Mathematik erhielten die so dem Fach gewogenen Mädchen in den ostdeutschen Bundesländern nicht. Auch in anderen Merkmalen des Unterrichts – den Methoden der Lehrer, ihren Leistungserwartungen, ihrer Wertschätzung nichtmathematischer Fähigkeiten – erkennen die Ökonomen keinen ausschlaggebenden Unterschied, genauso wenig wie in der stärker protestantischen Prägung der ostdeutschen Familien.

Die Erklärung der Wissenschaftler ist vielmehr: In der DDR wurde früh die berufstätige Frau als Rollen-Ideal propagiert. 1990 waren 89 Prozent aller ostdeutschen Frauen in einem Beruf und 92 Prozent der Männer. Die Vergleichzahlen für Westdeutschland liegen bei 56 und 83 Prozent. Zehn Jahre später sah es nicht viel anders aus: 80 Prozent berufstätige Frauen im Osten, 65 Prozent im Westen.

Frauen, so die ökonomische Deutung, haben sich in der DDR in viel stärkerem Maße in einer Konkurrenzsituation gegenüber Männern gesehen. Wenn Berufstätigkeit normal ist und es keine legitime Rückfallposition für Frauen in die ausschließliche Familien-Rolle gibt, erfolgt demnach schon das schulische Engagement stärker im Zeichen des späteren beruflichen Erfolgs. Dass man Mathematik später ohnehin nicht brauchen werde, dieser vielgehörte Satz ist in einer Gesellschaft, die alle in den Arbeitsmarkt zieht, weniger plausibel. Oder anders formuliert: Ihn sich früh zu eigen zu machen ist in einer solchen Gesellschaft riskanter.

Vergleicht man die europäischen Frauenerwerbsquoten, so bestätigt sich der Eindruck der Forscher. Am höchsten sind diese Quoten in den “westlichen” Ländern in Schweden, in den Niederlanden, in Dänemark und Finnland. Drei dieser Länder gehören auch zur Gruppe mit den geringsten geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden der Schüler in Mathematik; nur Dänemark fällt heraus. Und Island, wo die Mädchen im Mathematikunterricht sogar besser abschneiden als die Jungs, gehört ebenfalls zu den Ländern mit der höchsten weiblichen Berufstätigkeit in Europa.

Die meisten osteuropäischen Länder wiederum bewegen sich, was die Mathematik-Leistungen der Mädchen angeht, im Bereich Skandinaviens. Hier gibt es gleich vier Nationen, in denen Mathematik in den Schulen gewissermaßen weiblich ist: Albanien, Bulgarien, Litauen und Mazedonien.

Dass die sozialistische Ideologie allgemein vorteilhaft für Frauen war, will die Studie, die an der Pariser Sorbonne entstand, nicht behaupten. Sondern nur, dass sich in der schulischen und universitären Präferenz für Fächer auch gesellschaftliche Berufsbilder und sozialpolitische Entscheidungen (Ausbau von Tagesstätten, Mutterschaftszeiten) auswirken. Ob zusätzlich nicht doch auch eine bestimmte Art von Erziehung im Spiel ist, sei nur als Frage notiert. Vielleicht sprachen und sprechen im Osten Mathematiklehrer und -lehrerinnen sowie die Eltern den Nachwuchs gleicher an als im Westen.

Literatur:
Francine D. Blau und Lawrence M. Kahn: “The Gender Wage Gap: Extent, Trends, and Explanations”, Journal of Economic Literature 55 (2017)
Quentin Lippmann und Claudia Senik: “Math, Girls and Socialism”, SOEP-Papers 993 (2018), Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.