Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Gefangen im kafkaesken Staat

Die Bürokratie nimmt gegen alle Beteuerungen zu. Dahinter steckt System.
 

 
 
Für das, was die Bürokratie anrichtet, haben sich Bürokraten ein wunderbares Wort ausgedacht: Erfüllungsaufwand. So nennen sie “den Zeitaufwand und die Kosten, die den Bürgerinnen und Bürgern, der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung durch die Befolgung einer gesetzlichen Vorgabe entstehen”. Auf der Internetseite des Statistischen Bundesamtes ist nachzulesen, dass die Bundesministerien in Berlin verpflichtet sind, den Erfüllungsaufwand genau zu messen. Das sei wichtig für die “Gesetzesfolgenabschätzung” und für die “Auswahl der am wenigsten aufwändigen Regelungsalternative”. Und schon stecken wir mittendrin in der Bürokratie.
 
Man kann es aber auch einfacher auf den Punkt bringen: Es hat in Deutschland im zurückliegenden Jahr mehr als 10,7 Milliarden Euro gekostet, all die Paragraphen und bürokratischen Vorgaben zu erfüllen. Der Löwenanteil entfällt auf die öffentliche Verwaltung, wo die Kosten weit über das hinausgehen, was für eine gut funktionierende Gesellschaft notwendig ist. Im vergangenen Jahr sind die Kosten dort noch einmal steil nach oben geschossen – obwohl die Politik ständig verspricht, Bürokratie abzubauen. Das wirft die Frage auf, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass der Paragraphendschungel immer undurchdringlicher wird.
 
Die ersten Verdächtigen sind die Beamten und Angestellten in den Behörden. Ihr Hang, selbst einfache Anliegen und Abläufe zu einer Staatsangelegenheit zu machen, ist legendär – und alles andere als neu, wie bei Franz Kafka (1883-1924) nachzulesen ist. Durch die chaotischen Zustände in den deutschen Gesundheitsämtern während der Pandemie hätte sich der Schriftsteller, der zum Broterwerb für eine Versicherung tätig war, ganz sicher bestätigt gefühlt.
 
Doch der Vorwurf an die Beamten und Angestellten trifft die Falschen. Das jedenfalls ist die These einer Studie der Forscher Gabriele Gratton, Luigi Guiso, Claudio Michelacci und Massimo Morelli, die in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift American Economic Review erscheint. Die Ökonomen haben andere Verantwortliche ausgemacht – Politiker mit geringer Weitsicht und riesiger Geltungssucht.
 
Die Theorie dahinter geht so: Regierungspolitiker kommen an die Macht und haben nicht viel Zeit, um etwas zu bewegen. Weil sie gerne wiedergewählt werden wollen, müssen sie ihren Wählern schnell vorweisen, dass sie etwas bewegen können. Nichts eignet sich dafür besser als neue Gesetze. Wenn es eine gut funktionierende Bürokratie gibt – also schnell und effizient arbeitende Ministerien und Behörden -, sind die Folgen einer Reform für die Wähler rasch zu sehen.
 
Wechseln die Regierungen häufig, gibt es sehr viele Reformen, was diejenigen, die Gesetze auszuformulieren und umzusetzen haben, ans Limit bringt. Es beginnt ein Teufelskreis: Überlastete Beamte schaffen es nicht mehr, neue Gesetze umzusetzen, Reformen versanden oder greifen erst mit großem zeitlichen Abstand. Unter solch schlechten Voraussetzungen haben vor allem eher inkompetente Politiker den Forschern zufolge einen Anreiz, in noch schnellerer Frequenz schlecht gemachte Gesetze zu erlassen, die beim Wähler Tatkraft signalisieren, das gesamte System aber nur noch weiter überlasten. Es entstehe eine Abwärtsspirale aus schlechten Gesetzen und überflüssiger Bürokratie, die zu einem “kafkaesken Staat” führe.
 
Ob sie mit ihrer These richtig liegen, überprüften die Forscher am Beispiel Italien. Das Land hat heute einen miesen Ruf, was Gesetze und Bürokratie angeht. Vieles ist noch komplexer und undurchschaubarer als in Deutschland. Das war allerdings nicht immer so. Vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Regierungen des südeuropäischen Landes unter Führung der christdemokratischen Partei als relativ stabil, die Bürokratie als effizient.
Wann und wie kam es also zum Absturz? Die Ökonomen untersuchten das anhand von mehr als 75 000 Gesetzen und Rechtsakten, die in Italien zwischen 1948 und 2016 erlassen wurden. Sie unterzogen die Gesetze einer Sprachanalyse und stießen darauf, dass sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs immer komplexer wurden. Die Sätze waren nach der Wendezeit im Schnitt um gut ein Fünftel länger als zuvor, enthielten häufiger Substantivierungen und Querverweise auf andere Gesetze, was sie kaum noch verständlich machte. Das alles deuteten die Forscher als Hinweis auf schlecht gemachte und eilig beschlossene Reformen, die kaum noch ihren eigentlichen Zweck erfüllten. Dass das Abrutschen ins Dysfunktionale zu dem Zeitpunkt einsetzte, an dem in Italien die Regierungen häufiger wechselten und instabiler wurden, sehen die Forscher als Beleg für ihre Ausgangsthese von den aktionistischen Politikern.
 
Ko-Autor Claudio Michelacci fasste kürzlich in einem Interview zusammen: “Wir glauben, dass dieser Zusammenhang zwischen der Qualität von Gesetzen und dem Funktionieren von Institutionen übersehen wurde.” Das Tückische daran ist in den Augen der Forscher, dass das Abrutschen in den kafkaesken Staat von einem gewissen Zeitpunkt an nahezu zwangsläufig ist und es innerhalb dieser Logik kaum eine Möglichkeit gibt, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.
Einige Auswege zeigen die Forscher aber dennoch auf. Zum einen könnten fähige Politiker das Problem durchschauen und verhindern, dass unter ihrer Ägide ständig neue Gesetze erlassen werden, die den Behördenapparat weiter stressen. Alternativ könnten sie unnötige Reformen ihrer Vorgänger stoppen oder rückgängig machen. Das Problem bestehe aber darin, “dass die Politiker kaum Anreize haben, eine dieser Maßnahmen zu unterstützen. Denn wenn keine Reformen durchgeführt oder ausstehende Reformen gestrichen werden, können die Politiker ihre Kompetenz nicht signalisieren.”
 
Bleibt zu guter Letzt die Idee, eine Reform anzugehen, die den Teufelskreis aus übereifrigen Bürokraten und überlasteten Behörden von der anderen Seite aufzubrechen versucht. Sie müsste darin bestehen, die Zahl der Beamten und Angestellten aufzustocken, damit der Gesetzesstau abgearbeitet werden kann und wieder Kapazitäten für Neues entstehen. Man muss wohl kein großer Prophet sein, was in diesem Fall passiert: Der Erfüllungsaufwand würde dann nicht sinken, sondern weiter durch die Decke gehen.
 
Literatur: Gabriele Gratton, Luigi Guiso, Claudio Michelacci und Massimo Morelli: From Weber to Kafka: Political Instability and the Overproduction of Laws, American Economic Review, September 2021