Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Das Elend imperialer Nostalgie

Über Pfadabhängigkeit schlechter (Wirtschafts-)Politik: In Putins Russland sind die Traditionen des Zarenreichs und der Sowjetunion unverkennbar. Das dämpft Hoffnungen auf Reformen.

 

“Noch lange nach ihrem Verschwinden bleiben Imperien von Bedeutung. Das postimperiale Syndrom nostalgischer Illusionen über die Aussicht auf die Wiedergewinnung verlorener Größe erzeugt häufig populäre Ideologien, die auf einem Binnenfokus, auf Fremdenfeindlichkeit und auf Aggression gegenüber der äußeren Welt beruhen.” Diese beklemmend aktuell wirkenden Sätze  entstammen einer Arbeit der Ökonomen Ekaterina Zhuravskaya, Sergei Guriev und Andrei Markevich, die im renommierten “Journal of Economic Literature” erscheinen soll.
 
Ihr Beitrag verdeutlicht auf nachdrückliche Weise, wie imperiale Geschichte in Russland nachwirkt, zumal sich in seiner Geschichte mit dem Zarenreich und der Sowjetunion gleich zwei untergegangene Imperien finden. Auch neuere Forschungen haben nichts an dem seit Langem bekannten Befund der wirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands im Zeitalter der Industrialisierung geändert. Etwa zur Zeit der Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1860 entsprach das Pro-Kopf-Einkommen im Zarenreich (ohne das damals zum Reich gehörende Finnland) in etwa einem Drittel des Pro-Kopf-Einkommens in England und den Vereinigten Staaten.
 
Im Jahre 1890 begann eine Phase stärkeren Wirtschaftswachstums, weil Arbeitskräfte von der wenig produktiven Landwirtschaft in die produktivere Industrie wechselten, aber weit kam das Zarenreich damit nicht mehr, denn die Eigentumsrechte waren nicht zuverlässig definiert und die Regulierung des Arbeitsmarkts blieb erdrückend. Die Mehrheit der Bevölkerung waren Analphabeten. “Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstammte mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung immer noch der Landwirtschaft”, schreiben die Autoren. Im Vergleich zu den Industrienationen des Westens fiel das Riesenreich wirtschaftlich immer weiter zurück.
 
Die Revolution von 1917 und das Ende des Ersten Weltkriegs brachten lange Zeit keine Besserung. Im Gegenteil: “Die Produktion fiel im Jahr nach der Revolution um 40 Prozent. Dieser Einbruch trat vor allem in den verstaatlichten Wirtschaftszweigen ein.” Dann folgten Bürgerkrieg und Hungersnot. Lenins “Neue Ökonomische Politik” sorgte für eine leichte Erholung, aber die Wirtschaft blieb nach lange unter ihrem Niveau gegen Ende des Zarenreiches.
 
Wirtschaftshistoriker haben seit Jahrzehnten die Frage gestellt, ob es eines menschenverachtenden Herrschers wie Stalin bedurfte, um in der Sowjetunion die Industrialisierung voranzubringen. Die wichtigste Aufgabe bestand darin, Arbeitskräfte von der wenig produktiven Landwirtschaft in die produktivere Industrie zu bringen – und dazu bedurfte es in vielen anderen Ländern keines Terrors gegen die eigene Bevölkerung. Im Jahre 1928 befanden sich noch 87 Prozent der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, die aber nur 48 Prozent zur Wirtschaftsleistung beitrug. Neuere Arbeiten kommen zu dem Ergebnis, dass in vielen Wirtschaftszweigen die der Industrie innewohnenden Produktivitätspotentiale nicht genutzt wurden – was in einer Kommandowirtschaft, in der Knappheiten nicht durch Preise abgebildet werden, nicht sehr erstaunen sollte. Die sozialen Kosten dieser Politik waren ganz erheblich.
 
Ein wichtiger Teil der Arbeit befasst sich mit der Entwicklung der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, dem dort rund 27 Millionen Menschen und damit rund ein Sechstel der Bevölkerung zum Opfer fielen. Die ersten zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden häufig als eine durch eine mächtige Industrialisierung getriebene wirtschaftliche Erfolgsgeschichte geschildert. Die Sowjetunion schoss im Jahre 1957 mit Sputnik 1 den ersten Satelliten in eine Erdumlaufbahn, und in den Vereinigten Staaten begannen sich renommierte Ökonomen wie Paul Samuelson mit der Frage zu befassen, ob und wann die Sowjetunion wirtschaftlich die Vereinigten Staaten einholen könnte.
 
Davon konnte aber keine Rede sein. Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum betrug in den Fünfzigerjahren in der Sowjetunion zwar ordentliche 3,4 Prozent. “Nichtsdestoweniger gelang es im Unterschied zu Finnland und Japan nicht, zu den entwickelten Ländern aufzuschließen”, konstatieren die drei Autoren. Anschließend ging es kaum noch weiter. In den Achtzigerjahren betrug das Wirtschaftswachstum dann nur noch 0,7 Prozent im Jahr. Seit den späten Sechzigerjahren war die Lebenserwartung der Männer vor allem wegen des verbreiteten Alkoholismus zurückgegangen. Die geringe Flexibilität der Wirtschaft trug zu einem schwachen Produktivitätswachstum bei.
 
Im Westen ist oft diskutiert worden, ob eher die durch Willy Brandt verkörperte Politik eines “Wandels durch Annäherung” oder das durch Ronald Reagan verkörperte Wettrüsten der Sowjetunion den wirtschaftlichen Garaus gemacht hatte. Die drei Autoren verweisen nicht zuletzt auf den Fall des Ölpreises in den Achtzigerjahren, der die Devisenerlöse der Sowjetunion schmälerte. “Nach Stalin hatten sich die sowjetischen Regierungen von der Unterdrückung der Bevölkerung hin zu einem Kauf von Loyalität durch wirtschaftliche Vergünstigungen bewegt”, schreiben die Autoren. Der Rückgang der Devisenerlöse schmälerte hierfür das Potential: “In der Ära nach Stalin mussten sich die sowjetischen Regierungen immer stärker auf Einfuhren stützen, um die wachsende Nachfrage der Haushalte nach Konsumgütern zu befriedigen.” Nach dem Ende von Stalins Terror sei die Sowjetunion zum Untergang verdammt gewesen, weil das System das Wohlfahrtsversprechen gegenüber der Bevölkerung nicht einhalten konnte. “Das funktionierte, solange der Ölpreis hoch war; als er in den Achtzigerjahren einbrach, war die Sowjetunion bankrott.” Man könnte die aktuellen Diskussionen über ein Ölembargo durchaus einmal im Lichte der damaligen Erfahrungen führen.
 
Die drei Autoren zeigen anhand der russischen Geschichte auf, was Oded Galor gerade in seiner groß angelegten Geschichte des Wirtschaftens seit der Verbreitung der Menschheit aus ihrer ostafrikanischen Urheimat schildert: Frühere Prägungen werfen lange Schatten. “Das ist besonders zutreffend für historische Ereignisse, die kulturelle Merkmale, Institutionen und Humankapital prägen, während die Effekte des Zweiten Weltkriegs nach 25 Jahren überwunden waren”, schreiben die Autoren. “Die Sowjetzeit, in der Entscheidungen oft jenseits von Angebot und Nachfrage getroffen wurden, war gekennzeichnet durch eine besonders große Zahl wirtschaftlicher Schocks, die immer noch das wirtschaftliche Verhalten und den institutionellen Rahmen im modernen Russland und anderen frühen Sowjetrepubliken beeinflussen. Die Sklaverei, obgleich ein halbes Jahrhundert vor der Sowjetzeit abgeschafft, bleibt auch nach 150 Jahren immer noch eine wichtige Bremse für das Wirtschaftswachstum.”