Pop-Anthologie

Genesis: „The Musical Box“

Der Song „The Musical Box“ von Genesis ist ein Höhepunkt des Prog-Rock, in dem sich englische Literaturgeschichte mit Einflüssen von Bach bis Strawinsky mischt. Zeit für eine Wiederentdeckung.

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© Screenshot YoutubePeter Gabriel bei der Bühnenvorrede zu „The Musical Box“ in einer Aufnahme von 1973

Was ist nur mit der Popmusik-Geschichtsschreibung los? Zugegeben: Folk Rock und (Post-)Punk sind zentrale Spielarten des Pop. Doch die Vehemenz, mit der ihre Bedeutung herausgestellt wird, ist irritierend. Ein Opfer dieser von zentralen Instanzen der Geschmacksbildung vertretenen Gewichtung ist der Prog(ressive) Rock. Von den Punk- und Folkfreunden unter den Popbeschreibern wird das opulente, Geschichten erzählende, Anleihen an klassische Musik nehmende Genre mit Naserümpfen betrachtet. Das führt dazu, dass Prog-Fans sich unter Pop-Meinungsführern nur vorsichtig zu ihrer Leidenschaft bekennen. Als das internationale Leitmedium der Szene, der amerikanische „Rolling Stone“, eine Liste der 500 besten Alben aller Zeiten veröffentlichte, war denn auch der Prog völlig unterrepräsentiert.

Gleich eine Handvoll Alben der Byrds, aber kein einziges von Genesis? So ähnlich sieht es in vielen Bestenlisten aus, die seit Jahren versuchen, Popmusik zu kanonisieren und das Wertvolle vom Veraltenden zu scheiden. David Bowie, Van Morrison, Iggy Pop and The Stooges – das sind einige Gewinner dieser Geschichtsschreibung. Genesis, Yes, Jethro Tull, Gentle Giant, King Crimson, Van der Graaf Generator – das sind Verlierer. Dabei hat Prog bis heute eine inspirierende Kraft. Marillion wagten sich schon in den achtziger Jahren, die sonst einen weiten Bogen um Mythen machten und stattdessen hedonistisch das Jetzt feierten, an eine Verbindung von Tolkien und Rock. Seit den Neunzigern bekennen sich auch vermeintlich coolere Bands wie Tool oder …And You Will Know Us By The Trail Of Dead zu ihren Prog-Vorbildern. Und inzwischen gibt es in Steven Wilson einen Künstler, der seit seiner Trennung von der Band Porcupine Tree auch als Solokünstler unter Beweis stellt, dass das Genre nicht so angestaubt ist, wie gern von manchen unterstellt wird.

Eines der zentralen Stücke des Genres ist „The Musical Box“ von Genesis, das 1971 auf dem dritten Album der Band „Nursery Cryme“ veröffentlicht wurde. Es ist ein zehnminütiges Klein-Opus, das alles enthält, was das Genre ausmacht: virtuose Instrumentalpassagen zum Teil auf Rock-untypischen Instrumenten wie Querflöte und Oboe gespielt, in der Struktur Anleihen an klassische Musik, eine phantasievolle Geschichte, die über einen außergewöhnlichen Text vermittelt wird. Der Song ist das erste Stück der Platte, er nimmt eine zentrale Stellung ein.

Ich-Erzählung ohne Kopf

Das Plattencover von Paul Whitehead verweist auf den altenglischen Horror in den Songtexten einiger der wichtigsten Stücke des Albums, dessen Titel ein Wortspiel mit dem Begriff „Nursery Rhyme“ (Kinderreim) ist und ihn mit „Crime“ (Verbrechen) in Bezug setzt. Das Cover zeigt ein junges Mädchen mit einem Croquet-Schläger, das inmitten eines mit abgeschlagenen Kinderköpfen gespickten Feldes steht. Wie der Künstler in einem Interview mit der Internetseite „Teamrock.com“ sagte, hatte er „The Musical Box“ zuvor gehört; der Song habe ihn zu diesem an „Alice in Wonderland“ erinnernden Motiv angeregt. Da die Band mit dem Stück auf das viktorianische Zeitalter verweisen wollte, sei den Mitgliedern ein erster Entwurf zu modern gewesen. Daraufhin habe er die Leinwand mit altem Honig bestrichen, um eine ältere Anmutung zu erzeugen. Das habe schließlich verfangen.

Für die Popmusik äußerst ungewöhnlich, ist dem Songtext auf der Innenseite des Schallplatten-Covers ein Beitext angehängt, der die Geschichte hinter den Lyrics erklärt: Die beiden Kinder Henry und Cynthia haben zusammen eine Partie Croquet gespielt. Dabei hat das Mädchen unabsichtlich dem Jungen seinen Kopf abgeschlagen. Der landete daraufhin in einer Spieluhr (Musical Box), wo sie ihn einige Zeit später wieder auffindet. Henry aber altert abrupt und macht dem Mädchen erotische Avancen. Die dramatische Begegnung schildert dann das spektakuläre Ende des Songs. Der damalige Genesis-Sänger Peter Gabriel, ein Meister der Bühnenshow, schmückte die Erzählung bei Liveauftritten zu amüsanten und gestenreichen Ansagen aus: Henry sei in den Himmel aufgefahren, dort oben aber abgewiesen worden und daraufhin in der Spieluhr gelandet. Als einer der Höhepunkte der Show erschien er während des bombastischen Finales des Songs mit einer Maske, die ihn in einen lüsternen Greis verwandelte.

Der Songtext ist sehr literarisch und spielt auf den „King Cole“-Mythos an, der in einem der bekanntesten englischen Kinderreime seit Beginn des 18. Jahrhunderts verbreitet wurde:

Play me Old King Cole
That I may join with you,
All your hearts now seem so far from me
It hardly seems to matter now.

And the nurse will tell you lies
Of a kingdom beyond the skies.
But I am lost within this half-world,
It hardly seems to matter now.

Play me my song.
Here it comes again.
Play me my song.
Here it comes again.

Just a little bit,
Just a little bit more time,
Time left to live out my life.

Play me my song.
Here it comes again.
Play me my song.
Here it comes again.

Old King Cole was a merry old soul,
And a merry old soul was he.
So he called for his pipe,
And he called for his bowl,
And he called for his fiddlers three.

But the clock, tick-tock,
On the mantlepiece –
And I want, and I feel, and I know, and I touch,
Her warmth…

She’s a lady, she’s got time,
Brush back your hair, and let me get to know your face.
She’s a lady, she is mine.
Brush back your hair, and let me get to know your flesh.

I’ve been waiting here for so long
And all this time has passed me by
It doesn’t seem to matter now
You stand there with your fixed expression
Casting doubt on all I have to say.
Why don’t you touch me, touch me,
Why don’t you touch me, touch me,
Touch me now, now, now, now, now…

Unterbrochen werden die Strophen jeweils von ausladenden Instrumentalpassagen, die auf Skizzen des ersten Genesis-Gitarristen Anthony Phillips und des ewigen Genesis-Mitglieds Michael Rutherford beruhen. Auf dem vor einigen Jahren veröffentlichten Box-Set aus der Frühphase der Band kann man eine frühe Version des Songs mit dem Titel „Manipulation“ hören. Vor allem die folkig-ätherischen Passagen im Anfangsteil haben es fast unverändert in „The Musical Box“ geschafft. Von der Handvoll Genesis-Songs, die zu zentralen Elementen ihrer Bühnenshows wurden, ist dies  derjenige, der dem Leadgitarristen Steve Hackett – Phillips‘ Nachfolger – am meisten Gelegenheit gibt, seine Virtuosität unter Beweis zu stellen. „Cinema Show“, ein anderer dieser Livefavoriten, ist eindeutig der Showcase für den Keyboarder Tony Banks. „Watcher Of The Skies“ und „Supper’s Ready“ sind lange Kompositionen, bei denen das Kollektiv glänzt.

Nachdem Gabriel das erste Mal den Vers „Here it comes again“ gesungen hat, folgt eine kurze Instrumentalpassage, in der der Sänger ein Flötensolo spielt. An den Vers „Time to live out my live“ schließt sich eine längere sehr ruhige Instrumentalpassage abermals mit Flöte an. Als zum zweiten Mal eine Bridge mit „Here it comes again“ abschließt, folgt die Kernpassage des Songs mit einem eruptiven rockigen Ausbruch, in dem Hackett sein erstes sehr dynamisches Solo spielt und die von ihm erfundene (und später von Eddie Van Halen verfeinerte) Tapping-Technik einsetzt. Danach zitiert Gabriel in einer von zwölfsaitigen Gitarren vorangetriebenen Strophe wörtlich den Kinderreim „Old King Cole“. Im Anschluss setzt die Band zu einer Hardrock-Passage mit einem weiteren Hackett-Solo an, Banks fügt klassizistische Keyboard-Figuren bei, Drummer Phil Collins legt einen polkaartigen Rhythmus zu Grunde. Beim Live-Auftritt betritt danach Gabriel mit Maske die Bühne und leitet das emotional aufwühlende Finale ein.

© Screenshot YoutubeSteve Hackett (links) und Mike Rutherford

Der Songtext ist eine Ich-Erzählung des kleinen Henry, der soeben seinen Kopf verloren hat. Lockend fordert er Cynthia dazu auf, ihm mit der Spieluhr den Song „Old King Cole“ vorzuspielen. Ihr Herz habe sich von ihm entfernt, aber das spiele nun keine Rolle mehr. Denn Henry ist sich bewusst geworden, dass er sich in einer Halbwelt aufhält, in der er die Menschen nur noch schwerlich erreichen kann. Die Aussage des Kindermärchens, es gebe ein Königreich hinter dem Himmel, weist er als Märchen zurück. Da er schlagartig gealtert ist, bettelt er um etwas mehr Zeit, um sein viel zu schnell zu Ende gehendes Leben noch ausleben zu können. Er zitiert die Originalverse aus dem Kinderreim: Der alte König Cole war eine glückliche Seele, der seine Pfeife, seine Trinkschale und seine drei Geiger herbeiwünschte.

Doch die Zeit lässt sich nicht aufhalten, die Uhr auf dem Kaminsims tickt unaufhörlich. Henrys Sehnsucht steigert sich ins Unermessliche. Einmal noch will er Cynthias Atem und ihre Wärme spüren. Im Finale schwanken die Gefühle zwischen Zärtlichkeit (die Aufforderung, die Haare aus dem Gesicht zu bürsten) und der puren Fleischeslust. Wenigstens einmal will der ungewollt zum Greis gewordene Henry erleben, dass Cynthia ihn berührt. Auf der Bühne führt Gabriel einen regelrechten Veitstanz auf, an dessen Ende er den Mikrofonständer als Phallussymbol umklammert. Aus der Erzählung auf dem Plattencover wissen wir, dass das Kindermädchen die erotisch aufgeladene Szene jäh unterbricht, indem sie die Spieluhr auf den Greis wirft, wodurch beide zerstört werden.

© Screenshot YoutubePeter Gabriel nach dem Kostümwechsel als lüsterner Greis Henry

Der Songtext ist eine genialische Verbindung der altenglischen Sagenwelt mit der prüden Werthaltung der viktorianischen Gesellschaft und dem alten Popmusik-Topos der erwachenden Sexualität. Im Wechselspiel mit dem Kinderreim werden kindliche Naivität und erotische Aufladung auf provozierende Weise zusammengebracht. Der Dringlichkeit der jugendlichen Lust verleiht Peter Gabriel Ausdruck durch den cleveren narrativen Einfall, Henry seine Adoleszenz einfach überspringen zu lassen. Henrys Flehen, von Cynthia erotisch erlöst zu werden, bekommt dadurch einen fast religiös anmutenden Charakter.

Gabriel hat sich nach eigener Auskunft für „Nursery Cryme“ durch die Lektüre von Charles Dickens‘ „Great Expectations“ und Henry James‘ „The Turn Of the Screw“ inspirieren lassen. Die Schilderung der Jugend in diesen Büchern habe in ihm Bilder evoziert. Es bedurfte also gar keiner Verweise auf Fantasy-Romane à la Tolkien, um phantasievolle und literarisch anspielungsreiche Popsongs zu schreiben. Eingebettet ist das alles in eine der anspruchsvollsten Kompositionen der Popmusik – gespielt von Virtuosen, die an Edward Elgar, Igor Strawinski und Johann Sebastian Bach geschult waren.

Man kann verstehen, dass viele junge Leute von Mitte der siebziger Jahre an diese Intellektualisierung der Popmusik nicht mehr mitgehen wollten. Die Punk-Bewegung lässt sich geradezu als Antwort der Arbeiterklasse (und sich mit ihr solidarisierender Jugendlicher) auf die Klassikwerdung des Pop interpretieren. Ihr Schwung und ihre Unmittelbarkeit haben der weiteren Entwicklung der Musik gut getan. Das sollte aber nicht dazu verleiten, die kleinen Meisterwerke der Prog-Rock-Phase zu verkennen. „The Musical Box“ steht auf einer Stufe mit Klassikern wie Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ und The Whos „Won’t Get Fooled Again“. Nicht umsonst hat sich eine kanadische Coverband, die Shows der frühen Genesis Note für Note und Kostüm für Kostüm werkgetreu nachbildet, den Songtitel als Bandnamen gegeben. Genesis-Mitlglied Phil Collins hat die Wendung vom Prog zum Stadion-Rock ab Ende der siebziger Jahre einst damit erklärt, dass die frühen Werke zwar viele Fans begeistert hätten, Frauen aber erst zu Genesis-Konzerten gekommen seien, als seine Motown-Vorliebe aus den Songs herauszuhören war. Dass die Karrieren von Collins und Rutherford in Hits wie „Dance Into the Light“ oder „All I Need is a Miracle“ gipfelten, die von einer erschütternden Belanglosigkeit sind, ist das traurige Ende dieser Entwicklung. „The Musical Box“ aber darf nicht im Kuriositätenkabinett der Musikgeschichte abgelegt werden. Es gehört zum Kanon der besten britischen Popmusik.