Pop-Anthologie

Elis Regina und Tom Jobim: „Aguas de Março“

Dieses Lied sang Elis Regina, als Brasilien mitten in der Militärdiktatur steckte. Bei ihr werden die lange erwarteten Regengüsse in Rio de Janeiro zum Moment der Hoffnung.

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© Arquivo Nacional do BrasilElis Regina im Jahr 1969

In Brasilien sind die „Aguas de Março“ das, was jeden März in Rio de Janeiro vom Himmel kommt: Ein Wasserfall, der Schirme wie eine läppische Erfindung aussehen lässt, begleitet von plötzlichen Stürmen und Überschwemmungen. Der März markiert das Ende des Sommers, den größten Umbruch des Jahres. In diesem deutschen Sommer hingegen, der noch lange nicht vorbei ist, verblasst der Regenguss zu einer Erinnerung aus alten Zeiten, während sich die Bäume vor Trockenheit schon herbstlich färben. In so einem Sommer, der kaum noch Abkühlung verheißt, kann es nicht schaden, dem Regen eine Ode zu widmen.

Der brasilianischen Musik liegt bei aller Melancholie immer ein Funken Optimismus zugrunde. Das hat mit einer Mentalität zu tun, die Gelassenheit zum höchsten Gut erkoren hat, mit Lebensumständen, die es erfordern und dem „jeithinho brasileiro“, der Fähigkeit, noch aus der verzwicktesten Situation einen Nutzen zu ziehen. Und so ist dieser Bossa Nova über die letzten Tage des Sommers, die schweren Regengüsse, die eine herbstliche Schwermut einleiten, mit einem Beiklang versehen, der an Vorfreude erinnert.

É o pau, é a pedra, é o fim do caminho
É um resto de toco, é um pouco sozinho
É um caco de vidro, é a vida, é o sol
É a noite, é a morte, é um laço, é o anzol
É peroba no campo, é o nó da madeira
Caingá candeia, é o matita-pereira

„Aguas de Março“ beschreibt keine Geschichte, sondern eine Sequenz von Momenten, Gefühlen, Objekten, die sich zu einem großen Stimmungsbild fügen. Der Text stammt von Antônio Carlos (Tom) Jobim, dem Lyriker der brasilianischen Musik, der Songs wie„Desafinado“ schrieb und „The Girl from Ipanema“ komponierte, der den Bossa Nova mitbegründete, ihn mit  Elementen aus Samba und Jazz kombinierte und ihm in Amerika zu einem internationalen Publikum verhalf. Aber es war nicht Jobim, der „Aguas de Março“ zur Sehnsuchtsmelodie machte, die noch heute jeder im Land mitsummen kann. Es war die junge Elis Regina, eine exzentrische Musikerin aus einfachen Verhältnissen, die sich auf den Straßen von São Paulo einen Ruf ersungen hatte und einen Ausdruck für ihn fand, der klang, als hörte man den Regen auf die Markisen der Bars in Ipanema prasseln.

Der Song ist ein Musterbeispiel für den Einsatz rhetorischer Mittel. „Es ist der Stein, es ist die Glasscherbe, es ist die Sonne, die Nacht, der Tod“, singt Elis Regina mit perlender Stimme, und in die Parallelismen ihrer Aufzählung mischt sich Lakonisches: „Es ist ein bisschen einsam“. Es ist auch das Ende eines Weges, ein Abschied ohne Tränen. Aber alles fließt, schwingt weiter wie ein Pendel, und jedem Begriff, jeder Beobachtung schließt sich eine neue an.

„Aguas de Março“ ist ein scheinbar unpolitischer, assoziativer Song. Er entstand mitten in der Militärdiktatur von 1964 bis 1985, einer von vielen in Brasilien, während derer Repressionen und Zensur zum Alltag gehörten und politisch Andersdenkende, unbequeme Künstler und Musiker verfolgt wurden. Auch Jobim machte seine Erfahrungen mit der Militärjunta, als er ein Manifest gegen die Zensur unterschrieb und sich weigerte, auf einem staatlich organisierten Festival aufzutreten. Sein Telefon wurde daraufhin abgehört, seine Post gelesen. Als Jobim 1972 an dem Song arbeitete, hatte er beschlossen, sich zu den politischen Entwicklungen nicht mehr zu äußern. Er trank zu viel und klagte gegenüber Freunden, dass sich keiner mehr für seine Musik interessierte. Elis Regina hingegen trat zu diesem Zeitpunkt schon mit Liedern auf, die kritischen Anspielungen auf die „bleiernen Jahre“ enthielten.

Als ihm die Ideen kamen, war Tom Jobim bei Freunden in São José do Vale do Rio Preto, einer Bergregion nördlich von Rio. Wie viele brasilianische Schriftsteller und Lyriker beobachtete er seine Umgebung, die Natur und ihre Eigenarten mit einer naturalistischen Neugier. Ein Balken unter dem Dach, der Geruch der Möbel im Landhaus, das Geschwätz des Baches, das Ende einer Steigung, ein kleiner Vogel in der Hand. Und dann ein tiefes Geheimnis, während der Regen fällt, das Nicht-Wissen-Was-Man-Eigentlich-Will.

É madeira de vento, tombo da ribanceira
É o mistério profundo, é o queira ou não queira
É o vento vetando, é o fim da ladeira
É a viga, é o vão, festa da ciumeira
É a chuva chovendo, é conversa ribeira
Das águas de março, é o fim da canseira
É o pé, é o chão, é a marcha estradeira
Passarinho na mão, pedra de a tiradeira

É uma ave no céu, é uma ave no chão
É um regato, é uma fonte, é um pedaço de pão
É o fundo do poço, é o fim do caminho
No rosto um desgosto, é um pouco sozinho

É um estepe, é um prego, é uma conta, é um conto
É um pingo pingando, é uma conta, é um ponto
É um peixe, é um gesto, é uma prata brilhando
É a luz da manha, é o tijolo chegando
É a lenha, é o dia, é o fim da picada
É a garrafa de cana, o estilhaço na estrada
É o projeto da casa, é o corpo na cama
É o carro enguiçado, é a lama, é a lama

Tom Jobim verstrickte das, was er sah, mit dem, was er spürte, und ließ sich dabei von Lyrikern wie Olavo Bilac beeinflussen, der die Hymne auf die brasilianische Flagge dichtete, und J.B. de Carvalho, der eine seiner erfolgreichsten Aufnahmen mit den Worten „É pau, é pedra, é seixo miúdo“ begann. Die Antithesen, der deutliche Kontrast zwischen Singular und Plural, der stetige Wechsel zwischen negativ und positiv konnotierten Beobachtungen: Er schuf seinem Stimmungsbild einen Platz in der brasilianischen Lyrik. „Im Gesicht der Ekel“, heißt es unvermittelt, die Einsamkeit im Herzen, „und überall Schlamm“. So ist das, wenn es in Äquatornähe regnet, aber so dürfte es sich auch unter einer korrupten und repressiven Regierung anfühlen. Dem gegenüber steht das Wasser als Versprechen des Lebens.

É um passo, é uma ponte, é um sapo, é uma rã
É um resto de mato na luz da manhã
São as águas de março fechando o verão
É a promessa de vida no teu coração

É uma cobra, é um pau, é João, é José
É um espinho na mão, é um corte no pé
São as águas de março fechando o verão
É a promessa de vida no teu coração
É pau, é pedra, é o fim do caminho
É um resto de toco, é um pouco sozinho
É um passo, é uma ponte, é um sapo, é uma rã
É um belo horizonte, é uma febre terça
São as águas de março fechando o verão
É a promessa de vida no teu coração

1974 nahmen Elis Regina und Tom Jobim den Song gemeinsam auf. Es ist faszinierend, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich mit Kopfhörern vor dem Mikro gegenüberstehen, wie die Wortketten aus ihnen herausströmen und sie sich ins Wort fallen. Ein bisschen Sprechgesang, auch improvisiert, mit Raum für Pausen. Und am Ende hält Elis Regina so gelassen wie selbstbewusst eine Zigarette in der Hand und flirtet auf sehr fröhliche, sehr natürliche Art mit diesem musikalisch nicht ganz unbegabten, ungelenk dastehenden Mann im Pullover. Die beiden traten dann auch regelmäßig zusammen auf.

Später, als Jobim schon Platten mit Frank Sinatra aufnahm und Ella Fitzgerald seine englische Elis Regina geworden war, übertrug er den Text ins Englische. Der Märzregen ist jetzt mit der Erwartung auf den Sommer verbunden: „And the riverbank talks / of the waters of March, it’s the promise of life / in your heart in your heart.“ Ella Fitzgerald hat diese Verse, die Jobim so nah ans Original gedichtet hat, gesungen, aber selbst unter dem Klang ihrer warmen Stimme hören sich die englischen Verse sonderbar stumpf an. Wer vom Regen singt, sollte Portugiesisch sprechen.