Pop-Anthologie

Lucio Dalla: „L’anno che verrà“

Lucio Dalla singt in „L’anno che verrà“ von einer bleiernen Zeit. Er meinte die Ende der Siebziger – aber heute gewinnt das Lied noch eine ganz andere Bedeutung.

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Es gibt eine Statue des italienischen Sängers Lucio Dalla, da sitzt er auf einer Bank und hat lässig den Arm auf die Lehne gelegt. Er schaut zur Seite, lächelt freundlich ins Gesicht eines möglichen Besuchers, der sich auf der anderen Seite der Bank niederlassen kann. In der rechten Hand hält er eine Tüte, leicht zur Seite geneigt, so als wollte er seinem Gegenüber einen Snack anbieten – eine Geste unter Freunden. Passenderweise hat Carmine Susinni, der Bildhauer, der Statue den Namen „Dem Freund Lucio“ gegeben. Passanten nehmen gerne Platz, denn natürlich ist sie der ideale Ort, um Selfies zu knipsen. Vielleicht lassen sich andere aber auch nieder, weil sie in Lucio Dalla tatsächlich einen Freund sehen. Der italienische Journalist Giorgio Bocca versuchte vor vierzig Jahren, Dallas Erfolg zu ergründen. Alle liebten ihn, schrieb er im „Espresso“: Die Kinder, weil er aussah, wie eine Figur ihrer Kinderbücher. Die Alten, weil er sie an Hephaistos, den Gott aus der griechischen Mythologie erinnere: Haarig und ein wenig unförmig. Andere wiederum, weil er über Masturbation singe und damit auch noch Erfolg habe.

Eines der berühmtesten Lieder Dallas, „L’anno che verrà“, ist einem Freund gewidmet. Es beginnt mit den Worten „Caro amico, ti scrivo, così mi distraggo un po’“ – „Lieber Freund, ich schreibe dir, um mich ein wenig abzulenken.“ Es sind seltsame und keine sonderlich erbaulichen Zeiten von denen Dalla in seinem Brief erzählt. Das alte Jahr ist vorbei, singt er, „aber irgendetwas stimmt hier nicht“. Die Menschen gehen kaum vor die Tür, nicht einmal an den Feiertagen. Sie haben Sandsäcke vor ihre Fenster gelegt und sprechen nicht miteinander. Dalla singt nicht von Taten oder Ereignissen, sondern von einer Zeit der Angst und des Schweigens. Und von dem, was darauf im besten Falle folgen könnte.

Das Jahr, in dem Lucio Dalla sein gleichnamiges Album veröffentlichte, das mit dem Track „L’anno che verrà“ abschloss, war das Jahr 1979 und fiel damit mitten in die „anni di piombo“, die bleiernen Jahre. Italien war geprägt von neofaschistischer und linksradikaler Gewalt. Die Veröffentlichung lag genau zwischen zwei der berühmtesten Terroranschläge dieser Jahre: 1978 war der christdemokratische Politiker Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt und erschossen worden; 1980 wurden bei einem neofaschistischen Anschlag am Bahnhof von Bologna, der Stadt Lucio Dallas, 85 Menschen getötet.

Man könnte nun einen dementsprechend düsteren Song erwarten, eine politische Stellungname, einen Aufruf. „L’anno che verrà“ ist nichts von all dem. In der Welt, von der Dalla singt, im kommenden Jahr, geschehen neutestamentliche Wunder:

Sarà tre volte Natale e festa tutto il giorno
Ogni Cristo scenderà dalla croce
E anche gli uccelli faranno ritornoCi sarà da mangiare e luce tutto l’anno
Anche i muti potranno parlare
Mentre i sordi già lo fanno

Das heißt übersetzt: „Es wird dreimal Weihnachten sein und den ganzen Tag gefeiert / Jeder Christus wird vom Kreuze herabsteigen/auch die Vögel werden wiederkommen. / Es wird zu Essen geben und Licht, das ganze Jahr über/auch die Stummen werden sprechen können“.

Dalla selbst war katholisch und streng gläubig, „L’anno che verrà“ widmete er möglicherweise Michele Casali, einem Benediktinermönch aus Bologna. Sein Katholizismus hinderte den homosexuellen Dalla jedoch nicht daran, auch von profaneren Wundern zu singen, die mit der Kirche nicht so ganz in Einklang waren. Von solchen, die im Bereich des Möglichen liegen, von denen wir aber nun, vierzig Jahre später, trotzdem noch einigermaßen weit entfernt sind. „Jeder wird Liebe machen, so wie es ihm passt/Auch die Priester werden heiraten dürfen/Aber erst ab einem bestimmten Alter./Und ohne großes Aufsehen wird jemand verschwinden/vielleicht die, die immer alles besser wissen/die Idioten jeden Alters“.

Vielleicht kann man nicht glauben, dass alles so kommt, dass alles besser wird, heller, gerechter. Weshalb die schönste und vielleicht hoffnungsfrohste Passage, die ganz am Schluss ist:

Vedi caro amico cosa ti scrivo e ti dico
E come sono contento di essere qui in questo momento

„Sieh, lieber Freund, was ich dir schreibe und was ich dir sage/und wie glücklich ich bin/in diesem Moment hier zu sein“ und dann: „Sieh, lieber Freund, was man sich ausdenken muss, um darüber lachen, um weiter hoffen zu können?“

„L’anno che verrà“ kennen die meisten Italiener auch vierzig Jahre später noch. Seit 2003 strahlt das öffentlich-rechtliche Fernsehen jedes Jahr am 31. Dezember sein Silvesterprogramm unter diesem Namen aus, es beginnt und endet mit Dallas Lied. Anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums von „L’anno che verrà“ wurde am 30. Dezember 2019 auf Youtube ein Videoclip zum Song veröffentlicht. Dort sitzt ein Mann mit Lucio Dalla-Bart und Lucio Dalla-Mütze allein in einem Waschsalon und wartet auf den Beginn des neuen Jahres. Im Hintergrund blinkt ein trostloser Weihnachtsbaum. Das Jahr, das dann folgte, ist traurigerweise eines, zu dem Dallas Song wieder ganz besonders gut passt.

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Caro amico ti scrivo
Così mi distraggo un po‘
E siccome sei molto lontano
Più forte ti scriverò

Da quando sei partito
C’è una grossa novità
L’anno vecchio è finito ormai
Ma qualcosa ancora qui non va

Si esce poco la sera
Compreso quando è festa
E c’è chi ha messo dei sacchi di sabbia vicino alla finestra
E si sta senza parlare per intere settimane
E a quelli che hanno niente da dire del tempo ne rimane

Ma la televisione ha detto che il nuovo anno
Porterà una trasformazione
E tutti quanti stiamo già aspettando
Sarà tre volte Natale e festa tutto il giorno
Ogni Cristo scenderà dalla croce
E anche gli uccelli faranno ritorno

Ci sarà da mangiare e luce tutto l’anno
Anche i muti potranno parlare
Mentre i sordi già lo fanno

E si farà l’amore ognuno come gli va
Anche i preti potranno sposarsi
Ma soltanto a un a certa età
E senza grandi disturbi qualcuno sparirà
Saranno forse i troppi furbi
E i cretini di ogni età

Vedi caro amico cosa ti scrivo e ti dico
E come sono contento di essere qui in questo momento
Vedi, vedi, vedi, vedi
Vedi caro amico cosa si deve inventare
Per poter riderci sopra
Per continuare a sperare

E se quest’anno poi passasse in un istante
Vedi amico mio come diventa importante
Che in questo istante ci sia anch’io

L’anno che sta arrivando tra un anno passerà
Io mi sto preparando
È questa la novità