Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Nach Christchurch – wie sage ich es meinem Kind?

Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern spricht mit Schülern über das Massaker in Christchurch.

„Bei einer Schießerei am Freitag in Christchurch wurden 50 Menschen getötet, viele wurden verletzt.“ So steht es auf der Homepage der ZDF-Kindernachrichten „logo!“. Davon abgesehen, dass von einer „Schießerei“ kaum die Rede sein kann, da ein Attentäter gezielt Jagd auf Menschen gemacht hat: Der Stil ist sachlich und größtmöglich unblutig. Kindgerecht eben.

Denn eines ist klar: Auch an Kindern gehen solche Schreckensmeldungen wie aus dem neuseeländischen Christchurch nicht spurlos vorbei. Entweder erfahren sie im Internet, dem Fernsehen oder in den bei Papa und Mama herumliegenden Zeitungen von dem Massaker in der Moschee, in der sich zum Zeitpunkt der Attacke Hunderte Menschen zum Freitagsgebet versammelt hatten. Oder aber sie spüren das Entsetzen, das sich bei ihren Eltern breitmacht.

Jüngere Kinder wie unseren zweieinhalb Jahre alten Elias können wir vor den Bildern und solchen Nachrichten bewahren, er ist noch zu jung und interessiert sich nicht für den Fernseher; ja selbst das Tablet, das er furchtbar gerne vom Regal klaut, ist ihm vor allem als leuchtendes Irgendwas attraktiv. Inhalte interessieren ihn noch nicht sonderlich. Aber ältere Kinder im Grundschulalter und darüber hinaus vom Nachrichtenfluss zu isolieren – das ist praktisch unmöglich und auch nicht wünschenswert. Denn solche Terrorattacken wie in Neuseeland sind Teil der Realität und damit der Welt, in der die Kinder und wir alle leben.

Die Frage ist nur: Wie geht man als Eltern mit dieser Realität um? Wie schützt man seine Kinder? Aber wie führt man sie zugleich an diese Themen heran, ohne sie zu verschrecken und auch nur ansatzweise zu traumatisieren? Die Kinder in Watte zu packen, damit ist jedenfalls keinem geholfen, am wenigsten den Kindern selbst.Grundkonsens muss aber sein: Brutale Details, verstörende Youtube-Videos, blutige Fotos sind tabu.

Dass in den Morgenstunden des vergangenen Freitags das wie ein Egoshooter-Spiel aufgezogene Attentatsvideo im Internet kursierte, zeigt, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Kinder (und Jugendliche erst recht) hätten es sich relativ schnell besorgen und anschauen können. Noch später, als das Video meist nicht mehr aufzurufen war, gab es online Screenshots zu sehen, die „Bild“ präsentierte Sequenzen und Fotos aus dem Horrorvideo. Welche Sensationsgier oder, nach wohlwollender Interpretation, Wunsch nach dokumentarischer Authentizität da auch immer am Werk war – für Kinder wäre es leicht gewesen, an Material zu kommen.

Schlechte Nachrichten bedeuten nicht, dass die Welt schlecht ist

 Es ist schwierig, solche Verbreitungsmöglichkeiten abzustellen, es reicht ja ein herumliegendes Smartphone. Etwaige Filter müssten erst mit den entsprechenden Schlagworten gefüttert werden. Umso wichtiger ist es, dass die Eltern für die Kinder da sind und die Nachrichten einordnen. Und das Wichtigste zuerst: Eltern müssen ihren Kindern zeigen, dass es nicht Aufgabe der Medien ist, die Welt in ihrer Vollständigkeit zu zeigen, mit all ihren bunten und schönen sowie grauen und brutalen Seiten. Die Medien sollen die Finger in die Wunden legen, Skandale aufdecken, recherchieren, auch unterhalten. Sie sollen einzelne Ereignisse und Entwicklungen zeigen und einordnen – nicht mehr, nicht weniger. Dass sie voller negativer Nachrichten sind, heißt natürlich nicht, dass die Welt schlecht ist. Diese eigentlich grundlegende Medienkompetenz lassen aber selbst viele Erwachsene vermissen – wie sollen es dann die Kinder lernen?

Den Heranwachsenden muss also erst einmal die Angst genommen oder gleich schon im Keim erstickt werden: Sie sollten imprägniert sein. Im Falle Christchurchs oder einer ähnlichen Katastrophe werden Kinder die Eltern vielleicht fragen, ob ihnen so etwas auch passieren könnte, ob sie ebenfalls Opfer einer solchen Tat werden könnten. Die Antwort ist nicht leicht, sollte aber vielleicht lauten: „Der Mann hat in der Moschee angefangen zu schießen. So etwas passiert sehr selten, du kannst Dich also sehr sicher fühlen.“ Fast ist man geneigt, gleich noch die wesentlich höhere Gefahr hinterherzuschieben, bei einem Autounfall unter die Räder zu kommen. Aber das sollte man dann doch im Beisein der Kinder besser unterlassen. Sicher ist, nun ja, eben sicher und nicht nur eine Frage statistischer Wahrscheinlichkeiten.

Bei etwas älteren Kindern wird vermutlich die nächste Frage lauten, warum dieser Mann so etwas Schreckliches getan hat. Und jetzt wird es anspruchsvoller: Denn die einfachste Antwort, der Attentäter sei psychisch krank oder verwirrt oder sonst irgendwie entschuldbar angeschlagen, fällt im Falle Christchurchs aus. Der Attentäter ist ein brutaler Rechtsextremist, ein Rassist, der nicht nur Menschen auslöschen, sondern zugleich mit seinen gezielten Propagandabotschaften im Internet und einem großsprecherischen Manifest Unruhe und Unsicherheit verbreiten will. Ein faschistoider Troll, der kein Monopol auf eine krude Gedankenwelt hat, sondern damit anschließt an eine Welt voller rassistischer Verschwörungstheorien. Soll heißen: Er ist nicht der einzige. Und diese Parallelwelt ist längst nicht mehr so abgeschlossen, wie jene früherer Rechtsextremisten – sie findet ihr Futter auch in Kreisen, die sich lange Zeit noch irgendwie als bürgerlich maskiert haben.

Empathie für die Opfer in Neuseeland

Wir reden hier nicht übers Darknet oder verschlüsselte Chats, sondern über Bücher, Internet- und Facebookseiten von Identitären, Reichsbürgern, auch von lokalen AfD-Gruppen und einzelnen Politikern, die wieder Begriffe wie „Umvolkung“ oder „der große Austausch“ wie selbstverständlich im Munde führen. Der Katzenkrimi-Autor Akif Pirinçci („Felidae“) brachte 2016 in Götz Kubitscheks Verlag Antaios ein Buch mit dem Titel „Umvolkung – Wie die Deutschen still und leise ausgetauscht werden“ heraus.

Hinter diesem Begriff steht die gefährliche Verschwörungstheorie, wonach eine höhere Geburtenrate von Einwanderern zu einer Art „Völkermord an Weißen“ führe – und zwar, das wird suggeriert, gezielt gesteuert. Eine These, die zwar leicht zu widerlegen ist, die zugleich allerdings doppelt vergiftend wirkt: Einerseits, da sie Einwanderer zu „Völkermördern“ erklärt, andererseits da sie den real stattgefundenen Völkermord zum Beispiel an den Juden während des Dritten Reichs verharmlost. Auf frei zugänglichen Seiten im Internet, darunter auch Youtube, finden sich solche Begriffe mit größter Selbstverständlichkeit. Es ist schwer, Heranwachsende davor zu bewahren. Der Attentäter von Christchurch war offenbar tief in diese Gedankenwelt eingetaucht.

Aber Eltern können viel tun, um ihre Kinder vor solchen Dingen und den verstörenden Folgen brutaler Taten wie in Christchurch zu schützen:

  • Zunächst einmal sollten sie ihren Kindern jegliche Angst nehmen, ohne sie in unnatürlicher Sicherheit zu wiegen.
  • Zudem sollten sie ihre Kinder sensibilisieren. Es hat sich leider eingebürgert, dass wir – auch die Medien – Menschen zu sehr als Gruppenfunktionsträger identifizieren: als Flüchtlinge, Muslime, Schwule. Der Mensch, das Individuum dahinter, verschwimmt in einer Gruppenidentität, die es leichter macht, ihren „Funktionsträgern“ das Menschsein abzusprechen. Das machen sich Extremisten zunutze.
  • Differenzieren, differenzieren, differenzieren! Vater und Mutter tun gut daran, dem Kind sachlich zu erklären, wer der Täter ist, wie er zu dem wurde, was er ist. Begriffe aus dem Boulevard wie „Monster“ oder religiöse Anleihen wie „das Böse“ helfen da nicht weiter. Besser erklären, was ein Rechtsextremist will: dass solche Menschen (!) der Meinung sind, dass die Menschen nicht alle gleich viel wert sind. Zugleich verdeutlichen, dass diese Ansicht falsch und gefährlich ist.
  • Den Opfern ein Gesicht geben. Die Täterfixierung ist Ausdruck eines berechtigten Interesses, aber auch der Sensationsgier. Gerade Kinder haben aber die menschlichste aller Fähigkeiten, die Empathie für die Mitmenschen, noch nicht verlernt. Eltern können die Geschichten der Opfer erzählen, ihre Familien und deren Trauer thematisieren. Kinder können so etwas in Bildern verarbeiten.
  • Egoshooter- und Ballerspiele: Kein Mensch wird zum Attentäter, nur weil er gerne am PC oder dem Smartphone zockt. Aber der Attentäter von Christchurch hat in seinem Attentatsvideo gezielt die „Ästhetik“ von Egoshooter-Games eingesetzt, um die Verbreitung unter jüngeren Leuten zu beschleunigen, die diese Bildsprache aus ihren eigenen durchgezockten Nächten kennen. Auch deshalb sei daran erinnert, dass täuschend realistische Ballerspiele zwar nur Spiele, aber ab einer gewissen Dosis sicherlich nicht friedensnobelpreisverdächtig sind.

Dass der Attentäter von Christchurch genau wusste, wie er seine Bluttat medial „vermarktet“, lässt für zukünftige Taten nur den Schluss zu, dass Nachahmungstäter mindestens so „medienkompetent“ sein dürften wie er. Wer als Vater oder Mutter also der Meinung ist, das interessiert mich alles nicht, ich lese weiter nur ein gutes Buch, wird seine Kinder weder begleiten noch schützen können: Medieninkompetenz war noch nie so gefährlich wie heute.