Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wer sein Kind liebt, lässt es impfen

© DPA Picture AllianceDer Pieks muss sein: Kinder sollten geimpft werden.

Ich habe in diesem Blog vor einiger Zeit beschrieben, wie unser jüngster Sohn Lukas nur zehn Wochen nach seiner Geburt an einer Nierenbeckenentzündung erkrankte und ins Krankenhaus kam. Wie furchtbar das für uns war, und wie froh wir waren, als es hieß, dass der Infekt keine organischen Ursachen hatte und der Spuk nach der stationären Behandlung mit Antibiotika schnell vorbei sein würde.

Das war er nicht. Wenig später stellte sich heraus, dass es sehr wohl organische Probleme gab. Lukas musste im Alter von vier Monaten operiert werden. Es war kein dramatischer Eingriff, das Risiko nach Aussagen der Ärzte überschaubar. Dennoch werde ich nie vergessen, wie es mir das Herz zerriss, als eine Anästhesistin mit meinem schreienden Baby auf dem Arm in Richtung OP verschwand. Und wie erleichtert wir waren, als die Ärzte uns sagten, dass alles gut verlaufen war. „Vor hundert Jahren wäre so ein Kind einfach gestorben, und keiner hätte gewusst, woran“, hatte eine Krankenschwester schon beim ersten Krankenhausaufenthalt fast beiläufig zu mir gesagt, während sie eine neue Antibiotikum-Dosis an Lukas‘ Infusionsgerät anschloss. Mir ging das durch Mark und Bein. Lukas hat das Glück, in einer Zeit und einer Region geboren zu sein, in der es sowohl die nötige Diagnostik als auch eine Therapie gegen solche Erkrankungen gibt.

Noch heute bekommt er prophylaktisch ein Antibiotikum in Saftform. Ich finde das nicht toll (er schon, es schmeckt nach Erdbeere), auf dem Beipackzettel stehen diverse potenzielle Nebenwirkungen. Aber das Medikament minimiert das Risiko, dass sich die Infektion wiederholt, bevor die OP im Körper nachhaltig Wirkung entfaltet hat. Nicht eine Sekunde habe ich seinerzeit gezweifelt, mein krankes Kind mit diesem Antibiotikum behandeln zu lassen. Und nicht im Traum würde ich daran denken, es jetzt auf eigene Faust abzusetzen. Oder darüber zu schimpfen, dass irgendein Pharma-Riese am Verkauf dieses Antibiotikums Millionen verdient. Soll er doch. Er produziert ein Medikament, das mein Kind gerettet hat! Ich selber hätte das nicht gekonnt. Und auch kein Kräutergemisch. Und auch keine Zuckerkügelchen, by the way.

All dies geht mir immer wieder durch den Kopf, seitdem die Diskussion um Impfungen, insbesondere gegen Masern, neu entbrannt ist. Eigentlich sollte die Krankheit in Deutschland bis zum Jahr 2020 ausgerottet sein, stattdessen gibt es regional teils geringe Impfquoten und folglich immer wieder Masernausbrüche. Als Reaktion darauf wollen erste Kitas nur noch geimpfte Kinder aufnehmen. Der Präsident der Bundesärztekammer hält eine Impfpflicht gegen Masern auch in Schulen in Deutschland aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht für „absolut sinnvoll“. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unterstützt die Initiative. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) geht sogar noch weiter und sähe am liebsten eine Impfpflicht auch gegen Röteln, Diphtherie, Tetanus, Kinderlähmung, Keuchhusten, Mumps und Windpocken.

Vordergründig hat unser Fall nichts mit dem Thema Impfen zu tun. Doch es gibt Gemeinsamkeiten: Da ist eine Erkrankung, die mitunter gefährliche Komplikationen mit sich bringen kann. Und es gibt einen Weg, sie zu bekämpfen – entweder durch eine entsprechende Therapie oder, wie im Fall von Masern, eben durch eine Impfung (die es in unserem Fall leider nicht gab, sonst hätte sie meinem Kind viel Leid erspart). Zugegeben, die Menschheit hat in ihrer Geschichte schon allerlei Schlechtes hervorgebracht, die moderne Medizin aber ist doch ein Segen. Ja, Medikamente können auch Nebenwirkungen haben – alles andere hieße, dass sie nicht wirken. Es gibt Therapien, die nicht anschlagen. Und Ärzte sind nur Menschen. Aber: Die Medizin hat zahlreiche gefährliche Krankheiten ausgerottet. Und sie könnte es bei mindestens einer weiteren. Wären da nicht einerseits die Unkenntnis über die Gefährlichkeit bestimmter Krankheiten, wie Experten bemängeln – und andererseits die Impfgegner, die sich im Gegenteil sehr sicher sind, viel besser Bescheid zu wissen als die meisten Ärzte. Im Internet kämpfen sie teilweise mit harten Bandagen. Jede Impfung sei rechtlich gesehen Körperverletzung, heißt es dort etwa – inklusive Handlungsanweisungen, um sich gegen Kinderärzte oder Kita-Leitungen zur Wehr zu setzen. Von „Impfmobbing“ in Kitas und Schulen ist die Rede, von einem „von der Pharma erfundenen Herdenschutz“. Schreckliche Bilder von versehrten Kindern und dramatische Berichte von Eltern belegen vermeintlich Impfschäden.

Die mag es vereinzelt auch geben, wenngleich ich von keinem einzigen objektiv erwiesenen Fall weiß. Und ja, auch mich beunruhigen die möglichen Nebenwirkungen einer Impfung – wir selbst glaubten zuerst an eine Impfreaktion, als Lukas Fieber bekam. Aber meistens reden wir hier doch von einem Tag mit erhöhter Temperatur oder einer Hautrötung/-schwellung. Ganz sicher jedenfalls wird man von Impfungen weder Autist noch Diabetiker noch Krebspatient oder Ähnliches. Und: Eine Impfreaktion ist verschmerzbar im Vergleich zu dem, was Kinder mit einer komplizierten Maserninfektion durchmachen müssen. Es ist eben nicht einfach nur ein Virus, es härtet nicht ab, da muss man als Kind nicht „einfach mal durch, um sein Immunsystem zu stärken“. Einer Studie zufolge sind vor der Einführung von Impfungen jährlich etwa zwei Millionen Menschen an Masern gestorben. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehören Impfgegner zu den zehn größten Bedrohungen für die Weltgesundheit – und nicht zuletzt sie seien für die jüngste weltweite Zunahme an Masernerkrankungen um 30 Prozent verantwortlich.

Ich wünsche niemandem ein wie auch immer erkranktes Kind. Aber es scheint fast, als müssten einige Menschen das erst am eigenen Leibe oder dem ihrer Kinder erleben, bevor sie – zu spät – merken, was es bedeutet, wenn man keine Wahl mehr hat. Wenn man darauf vertrauen muss, dass Fremde wissen, was zu tun ist, um dem Kind zu helfen, das man selbst nicht schützen konnte. Das Argument verfängt freilich nicht bei Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass Impfungen der wahre und gefährliche Gegner sind und nicht die Krankheiten, die sie bekämpfen. Diese Einstellung ist vermutlich nur schwer heilbar.

Verantwortung der Gesellschaft

Normalerweise würde ich darauf sagen: Muss jeder Elternteil selbst wissen, es sind ja auch nicht meine Kinder. Aber es gibt auch so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Kinder, die nicht geimpft werden können, weil sie noch zu klein sind, können sich mit Masern anstecken, weil es Kinder gibt, deren Eltern eine Impfung ablehnen. Mein jüngster Sohn gehört dazu. Er ist sieben Monate alt und kann erst im August seine erste MMR-Impfung (Masern, Mumps, Röteln) bekommen. Und wir wohnen ausgerechnet in Berlin – einer Stadt, die in den vergangen Jahren mehrfach Masern-Epidemien erlebt hat. Mir wird schlecht, wenn ich mir vorstelle, dass er Masern bekommt, weil irgendwelche Eltern meinen, auf dem Rücken von Kindern einen Feldzug gegen die Pharma-Industrie führen zu müssen. Wir haben wahrlich schon genug Zeit in Krankenhäusern und Arztpraxen verbracht in Lukas‘ jungem Leben.

Unser großer Sohn Ben (vier Jahre) fragte mich derweil gestern am Frühstückstisch, wann er wieder zum Impfen muss. Die letzten beiden Male hat er in nicht besonders guter Erinnerung. Um nicht zu sagen: Er hat die ganze Praxis zusammengeschrien aus Angst vor der Nadel. Dass er überhaupt gerade hin muss, liegt nur daran, dass unsere erste Kinderärztin im Säuglingsalter (vielleicht auch aus ideologischen Gründen, wir wissen es nicht) nur eine Fünffach- anstatt eine Sechsfachimpfung vorgenommen hatte und es uns leider nicht aufgefallen war. Nun holen wir die Hepatitis-B-Impfung nach. Es wird auch beim dritten Mal Geschrei und Gezeter geben und einen Pieks, der meinem Kind weh tut und mir auch. Aber Ben weiß: In der Spritze stecken tapfere kleine Kämpfer, die seinen Körper gegen gefährliche Krankmacher verteidigen. Außerdem gibt es hinterher wieder Mittagessen in der coolen Burger-Bar gegenüber der Praxis. Als Belohnung. Für uns beide.