Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Das böse S-Wort

Es gibt einfach Situationen, die sind sch…

„Scheiße sagt man nicht.“ Generationen von Eltern wiederholen diesen Satz, den einst irgendwelche Papas und Mamas für ihre Kinder erfunden haben. Wie in Stein gemeißelt wirkt er, aber auch ein wenig aus der Zeit gefallen. Wo es doch viel schlimmere, anrüchigere, aggressivere und ordinärere Begriffe gibt, die mir zwar alle hier gerade beim Schreiben dieser Zeilen einfallen, die ich aber nicht tippen möchte. (Schade eigentlich.) Nein, das böse S-Wort ist mit Sicherheit nicht besonders förderungswürdig – aber so schlimm, wie manche Eltern noch immer denken, ist es auch nicht.

Oder kennen Sie das? Sie lernen erwachsene Menschen kennen, die im Beisein (und schlimmer: bei Abwesenheit) ihrer Kinder das Wort „Scheiße“, sollte es ihnen einmal aus Versehen aus dem Mund zu fallen drohen, nach den ersten drei Buchstaben schnell noch in ein verschämt hingedruckstes „Scheibenkleister“ umwidmen. Oder in „Scheitel“ oder „Scheibe“. Für mich ist dann der Moment maximaler Fremdscham erreicht, die Selbstverzwergung von Papa und Mama endgültig erreicht, indem sie sich in ihrer Erwachsenenrolle ohne Not selbst infantilisieren. Dem Kind ist damit bestimmt nicht geholfen. 

Das böse S-Wort ist an sich ja recht harmlos. Es ist eine Ausdrucksvariante unter vielen, um eine unbedeutende Alltagssituation in den Griff zu bekommen – wenn man sich weh tut beispielsweise, ein Glas fallen lässt oder sich über eine Situation ärgert. Es ist klar, dass der Begriff kein guter Stil ist und auch einen vulgären Ursprung hat, da er etymologisch der Fäkalsprache entstammt. Und genervte Eltern können ein bis fünf Lieder davon singen, dass Kleinkinder, spätestens sobald sie in den Kindergarten gehen, Fäkalsprache lieben. Aber als moderates Schimpfwort hat es gleichsam eine Ventilfunktion, die nicht zu verachten ist. Wer es nicht inflationär benutzt, verhält sich nur all zu menschlich.

Stürzt sich dabei der gute Wille auf das falsche Objekt?

Wenn also ein Erwachsener alles daran setzt, es zu vermeiden, kann man sich schon die Frage stellen, ob diese Art der Aggressionskontrolle nicht das berühmte Tröpfchen zu viel ist. Oder einen Schritt weiter gedacht: Kann es nicht sein, dass sich hierbei der gute Wille auf das falsche Objekt stürzt? Wenn einem schon Vorschulkinder den Spruch „Scheiße sagt man nicht“ aufs Brot schmieren, aber andererseits Glaubenssätze nachplappern, die unreflektiert von den Eltern übernommen sind? Glaubenssätze, die weitaus schlimmer sein können als das unfeine S-Wort, weil sie sich gegen Menschen und Personenkreise richten, während sich „Scheiße“ eben gegen keinerlei Subjekt richtet, sondern lediglich eine Zustandsbeschreibung ist.

Solche Glaubenssätze werden einem auch gelegentlich von Eltern um die Ohren gehauen. Glaubenssätze, die im Habitat der eigenen Lebensform, den zunehmend homogenen Vorstadtvierteln, entstehen, die sich manchmal, nicht immer, aber oft gegen andere richten – gegen sozial Schwächere, manchmal auch gegen Ausländer. Das trifft man in Städten und auf dem Land, in Dörfern kommt manchmal das Problem hinzu, dass hier weniger Gelegenheiten als in der Stadt entstehen, um mit anderen Lebensentwürfen in Kontakt zu treten. Wer aber kaum Kontakt zu anderen pflegt, verlernt das Fragen – und nervt nur noch mit den in traumwandlerischer Sicherheit vorgetragenen Antworten.Das böse S-Wort galt in Zeiten, da die Form über den Inhalt siegte, als Verfallssymptom einer Gesellschaft, die sich nicht mehr im Griff hat. Das hat sich geändert: Nicht mehr die ins Nirwana gerichtete Vulgarität des S-Wortes ist das Problem, sondern die gegen Menschen oder Menschengruppen gerichtete Diffamierung. Darauf achten natürlich auch Erzieherinnen und Erzieher, Lehrer und Eltern. Aber ausreichend? Vielleicht bleibt mehr Kapazität dafür, wenn man über die alten Schimpfwort- und Fluch-Tabus nachdenkt – das ist natürlich nur eine Teilrehabilitation des alten bösen S-Wortes. Öfter hören will man es dann doch nicht unbedingt.