Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Ein Lächeln mehr – und weniger meckern!

Was darf man hier eigentlich noch? Schild an einem Kinderspielplatz.

Als sich eine australische Freundin immer mal wieder – mehr oder minder offen – über das ihrer Meinung nach kinderunfreundliche Deutschland mokierte, ging ich als angesprochener Staatsbürger des Landes in eine Art automatisierte Verteidigungshaltung. Das könne man nicht so pauschal sagen, selbst die oftmals geschmähten Großstädte seien mittlerweile wieder sichtbar belebt von Familien mit Kindern, selbst oder gerade in Szenevierteln wie Prenzlauer Berg in Berlin. Zudem zeige doch die seit rund fünf Jahren steigende Geburtenrate, dass die Deutschen – darunter alteingesessene und eingewanderte Menschen – Kinder wieder wollten.

Wahrscheinlich habe ich typisch deutsch reagiert, weil ich die sozioökonomischen Daten in den Mittelpunkt meiner Argumentation gerückt habe, die tatsächlich, was die Zahl der Krippenplätze, der Ganztagsschulen, der Vätermonate und die Höhe des Betreuungsgeldes angeht, eine optimistische Sprache sprechen. Was die australische Freundin aber wohl eigentlich meinte: die Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit und Begeisterungsfähigkeit der Deutschen gegenüber Kindern, die sei teilweise mangelhaft – und erzeuge ein kinderunfreundliches Klima im Vergleich zu anderen Ländern, auch zu ihrem eigenen, Australien. Ihr Beispiel, an das ich mich nur noch vage erinnere: Mit Kinderwagen werde einem nur selten die Tür aufgehalten oder beim Einstieg in die Straßenbahn geholfen.

Solche Beispiele kann ich persönlich eigentlich weniger nachvollziehen. Sowohl beim Tragen des Kinderwagens eine Treppe hinauf, wenn der Aufzug beschädigt ist, als auch beim Türenoffenhalten im Zug habe ich andere Erfahrungen gemacht. Geholfen wird einem fast immer. Rund anderthalb Jahre sind meine Frau, unser Sohn Elias und ich wochenweise von Berlin nach Frankfurt mit dem Zug gependelt. Wir können uns über die Kinderfreundlichkeit in dieser Beziehung nicht beklagen. Wobei ich der Australierin allerdings bei einem zentralen Punkt zustimmen muss: So bereitwillig einem beim Zugeinsteigen geholfen wird, vielen Deutschen entlockt selbst ein niedliches Kindergesicht kein freundliches Lächeln. Im Zug, auf der Straße, im Supermarkt, woran liegt das?

Dieses – schwer zu messende – Kriterium Lächeln dürfte ein Grund dafür sein, warum auch viele Deutsche glauben, ihr Land sei, allem Ausbau von Betreuungsplätzen zum Trotz, kinderunfreundlicher geworden. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Kinderhilfswerks 2018 sind nur noch 56 Prozent der Befragten der Meinung, Deutschland sei kinderfreundlich. Das ist zwar noch immer die Mehrheit, aber eine schrumpfende – der Trend in solchen Umfragen jedenfalls zeigt seit Jahren abwärts. Mitverantwortlich dafür dürften sich häufende Berichte über Lautstärkebeschwerden von Spielplatzanrainern oder über kinderfreie Restaurants oder Wirte sein, die nur „gut erzogene“ Kinder in ihr Café lassen. Solche Debatten sind mutmaßlich nur in unserem Land möglich. Oder allenfalls in wenigen anderen, ebenfalls eher griesgrämigen Gesellschaften.

In der Tat sind die Restaurants im Land ein guter Gradmesser. In einigen fühlt man sich als Eltern mit Kind tatsächlich nur bedingt willkommen. Da wird einem schon einmal der hinterste Platz im hintersten Zimmer nahe bei den Toiletten zugewiesen, wo zudem kein anderer Gast sitzt, damit man die freundlichen Leute vorne im atmosphärischen Teil des Restaurants nur ja nicht stören kann. Natürlich gibt es Familien, die sich derart daneben benehmen, dass ein Wirt sein gutes Recht hat, solche Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Aber es geht um die richtige Reihenfolge der Beweislast: In einem kinderfreundlichen Land sollte die „Unschuldsvermutung“ am Anfang stehen – auf den kleinen Teil der unverbesserlichen Lautstärke- und Chaosproduzenten könnte der Wirt dann gesondert reagieren – mit Bitten und als ultima ratio: dem Rausschmiss.

Besonders deutlich wird einem der kulturell-atmosphärische Unterschied vor Augen geführt, sobald man auf Reisen geht. Der Umgang unserer europäischen Nachbarn auf dem Balkan – in unserem Fall kürzlich in Montenegro und Bosnien-Herzegowina – mit Kindern ist ein deutlich anderer. Die Menschen, die wir dort getroffen haben, stürzten sich förmlich auf unseren Kleinen. Speziell in den montenegrinischen Bergen wurde der Kleine von Wildfremden auf den Arm genommen, ihm wurde durchs Haar gewuschelt, und er wurde – abgeknutscht. Das war uns teilweise gar nicht mehr recht, weil es unser erlerntes Nähe-Distanzverhalten völlig auf den Kopf stellte. Elias war auch nicht gerade begeistert: Wir gingen dazu über, ihn ein Stück weit davor zu schützen, ohne die Gutmeinenden zu beleidigen. Überall: Lächeln, sobald unser Kleiner um die Ecke kam. Auch in Bosnien war es überhaupt kein Thema, das Kleinkind war selbstverständlich und unhinterfragt ein ebenso willkommener Gast wie die zahlenden Eltern.

Ja, der Stellenwert von Familie ist in Deutschland ein anderer. Das Leben spielt sich in zunehmenden Maße von der weiteren Familie entkoppelt ab, die Lebens- und Arbeitsbiografien sind individualisiert. Diese Entwicklung will ich gar nicht kritisieren, weil sie in hohem Maße die Gesellschaft liberalisiert und neue Freiheiten schafft, wo früher das Diktat der Familie herrschte. Aber kann es sein, dass die zeitliche und ökonomische Verdichtung unserer Lebensläufe für den Nachwuchs abseits des eigenen nicht mehr genügend Empathie- und Zuwendungskapital lässt? Das wäre zumindest ein bedenklicher Befund.

Dazu dann doch noch eine kurze Anekdote aus dem ICE nach Frankfurt. Vor ein paar Wochen saß ich in einem Ruheabteil, hinter mir zwei ältere Frauen. Im vorderen Bereich saß eine Familie, deren Kleinkind zeitweise, sicherlich nicht mehr als zwei Minuten, unruhig war und auch schrie. Die eine Seniorin, die in Leipzig zugestiegen war, beschwerte sich in tiefem Sächsisch, wie das denn sein könne, dass die Eltern die Kleine nicht im Griff hätten. Ihre Pauschalanalyse: Die Kinder von heute dürften zu viel und überhaupt – das sei ja nur diesem „antiautoritären Gehabe“ zu verdanken. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und wäre der Guten in die Parade gefahren – das habe ich dann gelassen.

Wenige Minuten später, unser Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung, rief dieselbe Frau in unserem Ruheabteil per Handy jemanden an, um mitzuteilen, wann sie ankommt und dass sich der Zug verspätet habe. Ungelogen, sie brüllte durch das halbe Abteil und zwang mich, jedes Wort ihres belanglosen Gesprächs mitzuhören. Als guter deutscher Meckerer hätte ich mich natürlich sofort beschweren müssen. Stattdessen aber ließ ich es gut sein, dieses Land soll ja nicht seniorenunfreundlicher werden. Aber aus dem innerlichen Kopfschütteln kam ich den Rest der Zugstrecke nicht mehr heraus.

Welche Erfahrungen Sie gemacht? Wie kinderfreundlich finden Sie Deutschland? Kommentieren Sie hier gerne!