Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Die Welt ist schlecht, mein Kind

Das Leben ist kein Kinderspiel – wie bringen Eltern ihren Kindern das nur bei, ohne sie zu verschrecken?

In der vergangenen Woche hat ein TV-Bericht über ein dubioses Kita-Spiel zahllose Eltern aufgeschreckt, auch uns. Das so genannte „Original Play“, erfunden von einem Amerikaner, soll Kindern mittels intensiver Rangelei mit Erwachsenen eine Art ursprüngliches, aggressionsfreies Spielen vermitteln. Jeder Erwachsene kann das angebliche pädagogische Konzept gegen eine Kursgebühr erlernen und anschließend in Betreuungseinrichtungen anbieten. Im ARD-Magazin „Kontraste“ bezeichnete eine Trauma-Expertin es als „Einladung zur Übergriffigkeit an Kindern“. Das Magazin berichtet über mehrere Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch, unter anderem in evangelischen Kindertagesstätten. Die meisten Ermittlungsverfahren seien mangels Beweisen allerdings eingestellt worden. Die evangelische Kirche und die Diakonie warnten als Reaktion auf den Bericht vor dem Kita-Spiel, weil es zur „Grenzüberschreitung im Umgang mit Nähe und Distanz kommen könnte“. In Berlin hat der Senat es einem Medienbericht zufolge gerade verboten und alle Träger zur Meldung aufgefordert.

Es ist nicht so, dass die Welt arm an Ereignissen und Nachrichten wäre, die einem Tränen in die Augen treiben, weil dieser verdammte Kopf nicht anders kann als diesen Gedanken zu formen: „Was, wenn das mein Kind wäre?“ Das lässt sich schnell wieder verdrängen, solange es um Krieg geht oder Naturkatastrophen irgendwo in der Welt. Doch der Bericht über dieses Kita-Spiel ist ganz nah an unserer Lebenswirklichkeit. An einem bestimmten Punkt müssen wir uns alle fragen: Wie und wann bereite ich meine Kinder eigentlich richtig auf die Welt da draußen vor, mit all ihren Grausamkeiten? Vermittele ich ihnen womöglich eine falsche Sicherheit, wenn ich schlimme Dinge, die sich manchmal sogar ganz in unserer Nähe abspielen, vor ihnen verheimliche oder kleinrede?

Letztere Überlegung schmerzt deshalb so, weil einer unserer wichtigsten Jobs als Eltern doch darin besteht, ihnen ab dem Tag ihrer Geburt Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln. Weiß doch jeder: Das Urvertrauen, also das gute Gefühl, dass die Menschen verlässlich und ihm wohlgesonnen sind, macht ein Kind stark fürs Leben. Also bringen wir dem Nachwuchs bei, dass die Welt etwas Tolles ist, voller Farben und Wunder und guter Menschen. Wenn im Autoradio schlechte Nachrichten kommen, schalten wir um. Wir können zwar nicht verhindern, dass die Kinder auch mal geschubst werden oder hinfallen, aber wir rennen hin und helfen ihnen auf. Und wenn sie in die Kita kommen, versichern wir ihnen, dass sie bei den Menschen dort genauso sicher sind wie bei uns. Das haben die Eltern der Kinder, die später Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs erstattet haben, vermutlich auch getan.

Unser großer Sohn Ben ist mit fünf Jahren in einem Alter, in dem man bisweilen in Erklärungsnöte kommt, weil man nicht mehr leugnen kann: Es passieren schlimme Dinge, und nicht jeder meint es gut mit einem. Er weiß nicht nur mittlerweile, dass nicht jedes Auto bei Rot anhält und dass es im Kita-Alltag auch mal Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten gibt, sondern er stellt zunehmend auch wirklich unbequeme Fragen. Warum führen Menschen Krieg? Oder: Kommen zu uns auch Einbrecher? Wir haben darauf bislang eher beschwichtigend bis ausweichend geantwortet („Krieg gibt es, wenn ein Land seine Bevölkerung gegen einen Angriff verteidigt, aber das ist sehr selten“) und alle Gefahren und Schreckensszenarien weit weg geschoben („Einbrecher gibt es, aber nicht hier bei uns“). Ich weiß, dass er, Wissbegierde hin oder her, für Details zu den diversen menschlichen Abgründen noch zu jung ist. Aber ich ahne, dass wir mit den weichgespülten Antworten und der Methode „Schnell, Themawechsel“ nicht mehr lange davonkommen werden.

Schon bald müssen wir ein Thema anpacken, vor dem mir jetzt schon graut: Bevor Ben nächstes Jahr in die Schule kommt, werden wir ihm eintrichtern, dass er auf dem Schulweg oder auf dem Schulhof auf keinen Fall mit Fremden sprechen, geschweige denn mit ihnen mitgehen darf. Ich hoffe, dass er mich dann nicht nach dem Warum fragt, denn dann muss ich ihm antworten: Weil es auch in unserer Nähe Menschen gibt, die Kindern etwas Böses antun wollen. Aber ich habe Sorge, dass er dann Angst bekommt und überall schlechte Menschen vermutet. Er ist ohnehin ein sensibles, emotionales Kind und macht sich schon jetzt über viel zu viele Dinge Gedanken. Wie bekommen wir es hin, dass er ein gesundes Misstrauen entwickelt, ohne aber an der Menschheit zu verzweifeln?

Ich habe keine Antwort darauf, wir müssen es jeden Tag neu probieren. Kürzlich habe ich Ben gelobt, weil er sich in einer Bäckerei nicht in ein Gespräch mit der freundlich lächelnden Verkäuferin verwickeln ließ, sondern sich verlegen wegdrehte. „Es ist genau richtig, mit Menschen, die du nicht kennst, nicht zu reden, auch, wenn sie sehr nett zu dir sind“, habe ich ihm gesagt. Wir versuchen ihm zu vermitteln, dass es wichtig ist, auf sein Gefühl zu vertrauen und sich gegebenenfalls Hilfe zu holen, wenn eine Situation ihm unangenehm ist. Er soll lernen, dass „Nein“ auch „Nein“ heißt und er es sagen darf, auch ganz laut, sowohl im Umgang mit anderen Kindern als auch mit Erwachsenen. Ich weiß das alles, aber ich weiß nicht, ob es reicht, um ihn zu beschützen. Man kann nicht alle Situationen durchsprechen und durchspielen. Der Bericht über „Original Play“ zeigt: Manchmal lauert das Böse gerade dort, wo man es am wenigsten vermutet.

Und dann gibt es auch noch schlimme Dinge, die passieren, ohne, dass jemand etwas dafür kann. Kürzlich fiel Ben das verstorbene Zwergkaninchen seiner Tante wieder ein, und er beklagte sich bitterlich, dass Gott so etwas wie Sterben erfunden habe. „Gott ist kein Mensch! Gott ist ein toter Mensch!“, hörte ich ihn im Nebenraum entrüstet zu seinem Vater sagen. „Er ist der bescheuertste!“

Ich kann mein Kind vor allen möglichen Gefahren und Übeltätern im Leben warnen, ihm vieles erklären. Aber ich kann ihm nicht garantieren, dass ihm selbst oder Menschen, die ihm wichtig sind, nicht trotzdem Schlimmes widerfährt. Und erst recht nicht erklären, warum so etwas passiert. Es werden Menschen krank und sterben, auch in unserem Umfeld, und wo ich selbst gelähmt bin vor Entsetzen oder Trauer, habe ich auch keine kindgerechten Erklärungen und Antworten parat. Das Schlimmste für mich als Mutter ist: Ich kann Ben nicht einmal versprechen, dass ich immer an seiner Seite sein werde, um ihn zu trösten, wenn der Himmel über ihm zusammenbricht und niemand daran Schuld hat. Ich kann nur hoffen, dass ihn im Leben immer Menschen umgeben, die hinrennen und ihm aufhelfen, wenn er fällt.