Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Der Zauber der lauten Silvesternacht

Feuerwerk trotz der Buschbrände: Im australischen Brisbane hat 2020 bereits begonnen.

Heute war ich beim Discounter, um ein paar Sachen einzukaufen. Als ich an dem Sonderstand mit dem Feuerwerks- und Silvesterkram hängenblieb, ging eine Frau an mir vorbei und sagte zu ihrem etwa acht Jahre alten Sohn sehr deutlich und sehr laut: „So einen Mist brauchen wir nicht. Da wird nur viel Geld in die Luft geschossen und die Luft verpestet.“ Dann schob sie ihren Sohn demonstrativ weg. Ich fühlte mich angesprochen, dabei hatte ich gar nicht die Absicht, die Luft zu verpesten und unnötig viel Geld in die Luft zu schießen. Ich wollte die familien- und kindertaugliche Packung mit Tischfeuerwerk und Knallbonbons kaufen, die Maya sie sich für unsere heimische Silvesterparty wünscht. Denn was Sinn und Unsinn der Silvester-Böllerei betrifft, vertrete ich eine ähnliche Meinung.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es ginge mir in erster Linie um die Feinstaubbelastung am Neujahrstag, auch wenn man diese Diskussion nicht außer Acht lassen sollte, wie das Umweltbundesamt ganz deutlich erklärt: Am ersten Tag des neuen Jahres ist die Luftbelastung mit gesundheitsgefährdendem Feinstaub vielerorts so hoch wie sonst im ganzen Jahr nicht. Ich bin starke Allergikerin, schon von daher sollte mir viel an guter Luft liegen. Aber mich nervt in erster Linie die unbedachte Rumböllerei vor und nach Silvester. In der Silvesternacht sind alle darauf vorbereitet. Tiere (zumindest die Haustiere) und Kinder werden im Notfall abgeschottet, und wenn es einem zu laut und zu stinkig wird, kann man ja ins Haus und der Knallerei aus dem Weg gehen. Ich habe es früher auf öffentlichen Partys gehasst, wenn man draußen nett mit den Freunden anstoßen wollte, und plötzlich ein Böller haarscharf an einem vorbeizischte, der einen nur mit viel Glück nicht erwischte. Zu viel Alkohol, zu viel Testosteron, zu viel jugendlicher Leichtsinn in dieser speziellen Nacht! Ich weiß schon jetzt, welche Ratschläge ich Lara, meiner fünfzehnjährigen Tochter, nächstes Jahr mit auf dem Weg geben werde (sie wird es hassen, aber ich tu’s trotzdem), wenn sie den Silvesterabend nicht mehr zu Hause, sondern auf einer Party verbringen wird.  

Bereits an den Tagen vor Silvester hört man es in unregelmäßigen Abständen durch die geschlossenen Fenster knallen. Mehr als 30 Stunden zu früh! 30 Stunden, in denen Freigänger-Katzen noch ihre Runden drehen, Hunde mit ihren Besitzern Gassigehen und Kinder auf den Straßen spielen. Vor zwei Jahren waren wir am frühen Silvesterabend mit den Kindern unterwegs zu einer Veranstaltung, als ein paar Meter von uns entfernt ein paar Idioten (ich kann sie leider nicht anders bezeichnen) eine ganze Batterie Knallkörper stark verfrüht abfeuerten. Es traf uns unvorbereitet aus nächster Nähe und war entsprechend laut. Mir blieb kurz das Herz stehen und meine Ohren klingelten unangenehm. Maya fing an zu weinen und wollte sofort zurück zum Auto und auf keinen Fall die 100 Meter zur Veranstaltungshalle weiterlaufen. Sie zitterte am ganzen Körper und wir hatten große Mühe sie zu beruhigen und zum Weitergehen zu überreden. Da war ich sauer auf den Feuerwerksverkauf, weil die Böller viel zu häufig in die falschen Hände geraten. Es kann ja nicht sein, dass man Kindern und Tieren zwei Tage vor und nach Silvester Ausgehverbot erteilt, um kein Risiko einzugehen!

Ich bin kein Schwarz-Weiß-Denker und finde nichts nerviger als einseitige, radikale Ansichten à la „Wenn du Tiere isst, kannst du auch kein Tierliebhaber sein“ oder „Wenn du eine gute Mutter sein willst, dann musst du stillen“. Und so gibt es auch für mich bei der Feuerwerksdebatte eine Grauzone. Ich persönlich hätte nichts dagegen, wenn man den Verkauf von Feuerwerkskörpern komplett verbieten würde, auch wenn ich zum Jahreswechsel selber gerne in den Himmel schaue, das laute Treiben um mich herum mit einem Glas Sekt in der Hand genieße und dann mit Familie, Freunden und Nachbarn anstoße. Aber ein geplantes, an einem zentralen Ort organisiertes Feuerwerk ginge für mich in Ordnung. Ich befürworte die Verbotszonen an sensiblen öffentlichen Plätzen wie dem Kölner Dom, der Düsseldorfer Altstadt oder dem Brandenburger Tor. Mehr Sicherheit für die Besucher (auch später für meine eigenen Töchter), damit man ohne Angst, es könnte einem ein Böller in den Ausschnitt fliegen oder die Haare abfackeln, feiern kann und damit Polizei, Feuerwehr und Notfallambulanz entlastet werden.        

Maya, meine zwölfjährige Tochter, geht Silvester meist nur kurz vor die Tür. Die Knallerei macht ihr nach wie vor Angst und ist ihr zu laut. Letztes Jahr hat sie sich ihre Kopfhörer aufgesetzt, Musik gehört und von innen aus dem Fenster geschaut, bis das größte Spektakel vorbei war. Sie würde niemals freiwillig einen Feuerwerkskörper in die Hand nehmen und hat selbst vor den Tischbomben großen Respekt. Lara tickte immer schon anders. Als Kind war sie eine äußerst neugierige Forscherin und Sammlerin, und so bleute ich ihr jedes Jahr aufs Neue ein, bloß keine liegengebliebenen Böller aufzuheben. Man wüsste nie, ob die noch losgehen würden. Auf keinen Fall dürfte man sie anzünden! Ich klärte sie umfangreich auf und sparte auch nicht mit blutigen Details. „Der kann in deiner Hand explodieren und dann ist die Hand weg, für immer. Zerfetzt! Oder das Gesicht! Versprich mir, dass du das niemals tust!“ Lara nickte mit ihren sechs oder sieben Jahren artig. Und doch fand ich irgendwann hinter unserem Gartenhaus einen kleinen Haufen Feuerwerkskörper, die sie von der Straße und in den Beeten der Umgebung gesammelt hatte. Darauf angesprochen, gestand sie mir, sie würde das jedes Jahr am Neujahrstag machen. So sind Kinder: aus Abenteuerlust immer ein bisschen unberechenbar.

Natürlich ist die Silvesterbrauch, das alte Jahr lautstark zu verabschieden, tief bei uns verankert. Viele Feuerwerksverbot-Gegner fühlen sich in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt und ihrer Traditionen beraubt. Manche finden, man würde Kindern ein Privileg nehmen, das man als Kind selber hatte: den Zauber der lauten Silvesternacht. Aber ist das wirklich so? Würde den Kindern wirklich etwas Fundamentales geraubt werden? Meine Töchter haben im Kleinkindalter furchtbare Ängste ausgestanden, wenn es sich draußen so anhörte, als würde die Welt gerade untergehen.

Die Frau, die beim Discounter so resolut an mir vorbeigegangen war, kam eine Minute später zurück und stellte sich zu mir an den Silvesterstand. „Es gibt doch Bleigießen mit Wachs?“, murmelt sie mehr zu sich als zu mir. Ich nickte. „Ja, gibt es. Habe ich letzte Woche noch gekauft.“ Die Entscheidung der Europäischen Union, einen neuen Grenzwert für Blei in Produkten festzulegen und somit das Bleigießen bei uns abzuschaffen, tat uns nicht wirklich weh, oder?! Das blöde Blei hat doch sowieso immer ewig gebraucht, bis es endlich auf dem Löffel geschmolzen war. Es ist gut, dass in der Gesellschaft gerade ein Umdenken stattfindet und viele Geschäfte den Verkauf von Feuerwerkskörpern nicht mehr anbieten und man sich fast schon schuldig fühlt, wenn man vor dem Stand mit den Feuerwerkskörpern stehenbleibt (auch wenn man nur Tischbomben kaufen möchte). Und wenn schon Feuerwerkskörper, dann bitte keine blöden lauten Kracher, die nur Krach verursachen und nicht einmal schön anzusehen sind. Zum Glück machen Städte und Gemeinden sich Gedanken darüber, welche Alternativen es zu der bisher traditionellen ungeplanten und manchmal schon an Vandalismus grenzenden Rumböllerei geben kann. Wir haben doch so viele andere Traditionen, die wir beibehalten können!  Machen wir uns Gedanken um unsere eigenen Alternativen!

Wir werden als Familie ein paar Runden auf der Eisbahn Schlittschuhlaufen, es uns anschließend zu Hause mit Musik und Essen gemütlich machen, das ein oder andere Spiel spielen, unsere unspektakuläre Tischbombe und die Knallbonbons abfackeln und das Jahr 2019 noch einmal Revue passieren lassen. Wir werden uns sicher an den Sommerurlaub und unseren Berlin-Trip erinnern, überlegen, welche Kinofilme uns am besten gefallen haben, welche Tage uns in spezieller Erinnerung geblieben sind und welche Erwartungen wir an das neue Jahr stellen. Um Mitternacht drehe ich übrigens immer die Musik im Haus voll auf. Das ist eben unsere Art, das neue Jahr lautstark zu begrüßen.  

Kommen Sie gut ins neue Jahr!