Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Nach mir die Sintflut

Auf dem Weg zur Kita – nicht immer sind die Beteiligten so guter Dinge wie auf diesem Bild

Unser zweiter Sohn ist jetzt auch ein Kita-Kind. Und damit so gut wie aus dem Haus. So fühlt es sich zumindest an. Ich weiß, das Abschiednehmen bleibt uns Eltern nicht erspart, wenn wir wollen, dass unsere Kinder immer besser ohne uns klar kommen in dieser Welt. Und das wollen wir doch, stimmt’s? Deshalb läuft bei uns gerade die Kita-Eingewöhnung mit Lukas (16 Monate). Die erste Woche war nicht aussagekräftig, weil wir nur drei Mal hingehen konnten. Die zweite Woche lief super, ich war allerdings stets im Hintergrund dabei. Heute, zu Beginn der dritten, bin ich das erste Mal für eine Viertelstunde ohne ihn nach draußen gegangen. Es war eine sehr lange Viertelstunde.

„Knuddel ihn fest, sag, dass du gleich wiederkommst – und dann geh zügig“, hatte seine Kontakt-Erzieherin gesagt. Als ich mich anziehe, denkt Lukas zuerst noch, er kommt mit wie immer, und patscht aufgeregt mit den Händen an die Glastür. Nicht umdrehen, sage ich mir, nicht umdrehen, als ich ihn hinter der zufallenden Tür losbrüllen höre. Nein, ich fange an der Schleuse zur Straße nicht an zu heulen. Aber ich muss tief durchatmen, um meinen Puls herunterzuregeln. Dabei habe ich das alles schon mal durch, mit unserem großen Sohn Ben (5). Auch damals war die Eingewöhnung schmerzhaft, das weiß ich, aber meine Erinnerung an diese Zeit ist irgendwie verblasst. Heute muss ich Ben nachmittags manches Mal regelrecht aus der Kita zerren, weil er noch weiterspielen will. Aber auch, wenn viele etwas anderes behaupten: Man mag sich ein bisschen besser damit auskennen, wie es läuft oder laufen sollte, aber man wird eben nicht „mit jedem Kind entspannter“. Zumindest nicht ich. Letztes Mal war es hart, weil es das erste Kind war. Jetzt ist es hart, weil es das letzte ist.

In wenigen Wochen werde ich wieder arbeiten, in Teilzeit, meistens im Home Office, für meine „alte“ Firma, in der alle Führungskräfte selbst Eltern sind. Ich habe also großes Glück und könnte einigermaßen entspannt sein (mal abgesehen von der Sache mit der Rente). Doch gerade weil ein neues Kapitel mit einem komplett neuen Alltag bevorsteht, fällt mir der Abschied doppelt schwer. Ich habe keine Babys mehr zu Hause. Und ich habe keine Ahnung, wie das klappt als Working Mum mit zwei Kindern. Bei aller Emanzipation und bei aller ehrlichen Freude auf den Job ist die Priorität klar: erst Mum, dann Working. Aber schon bei Ben ist mir das schwer gefallen, weil ich beidem gerecht werden wollte. Und ich werde jetzt schon nervös, als klar ist, dass es mit der Eingewöhnung länger dauern könnte als geplant und ich womöglich erst später anfangen kann zu arbeiten. Ich will keine Klischees bedienen. Aber als ich nach 15 Minuten wiederkomme und sehe, dass Lukas knallrot und tränenüberströmt dasteht, würde ich diesen ganzen Eingewöhnungsquatsch am liebsten sofort hinschmeißen und den Job gleich mit. Mein Baby gehört zu mir!

Zu allem Überfluss geht in den zwei ersten Eingewöhnungswochen, in denen ich den Kita-Alltag im Hintergrund beobachte, manches Mal das Kopfkino mit mir durch. Mit welcher Lässigkeit die Erzieher die Kinder zeitweise sich selbst überlassen! Ist Lukas hier überhaupt sicher aufgehoben? Kinder teils weit unter zwei Jahren schlappen in ihren ledernen Lauflernschuhen zwischen Herden größerer Kinder über die Gänge, verschwinden mal in dem einen, mal in dem anderen Raum. Ich selbst soll auf Anweisung unserer Kontakterzieherin „möglichst langweilig“ und passiv bleiben, wenn mein Kind auf seinen Erkundungstouren bei mir vorbeikommt. Ich zwinge mich also, sitzenzubleiben, als er ohne Begleitung im Kinder-Bad verschwindet, auch wenn mir Übles schwant. Wenig später kommt Lukas mit triefnassen Ärmeln zurück, weil er ein paar Bauernhoftiere im Klo versenkt hat. „War ja zum Glück nur Wasser drin“, lacht die Erzieherin, die ihn eingesammelt hat, und ich lache auch und überlege fieberhaft, ob ich irgendwo im Rucksack noch Desinfektionsspray habe.

Ich weiß, ich darf nicht unfair sein. Die Erzieher sind zu wenige; sie können nicht überall gleichzeitig sein, echte Katastrophen sind selten (außerdem passieren sie oft genug in Anwesenheit von Eltern), Kinder sind robust und die meisten von ihnen sichtlich zufrieden hier. Zwei etwa fünfjährige Mädchen haben sich beieinander untergehakt und rennen kichernd auf und ab, ein anderes Mädchen trägt stolz seine Kinderkamera mit sich – es ist Spielzeugtag – und lässt einen Jungen, der sie ausleihen will, mit Genuss abblitzen. Ein Geburtstagskind stolziert in goldbemalter Pappkrone vorbei, und ich muss an Rolf Zukowski denken, ausgerechnet: „Im Kindergarten, im Kindergarten: Da fangen alle mal als kleine Leute an!“

Also eigentlich alles halb so wild. Ich bin schon fast eingewöhnt hier, da kommt eines Tages im Gang ein kleiner Junge vorbei geschlurft, vielleicht zwei Jahre alt. „Mama“, schnieft er, nicht besonders laut, aber deutlich hörbar. Ein zweiter Junge, etwa drei Jahre, kommt dazu, fasst ihn am Oberarm und zieht ihn mit sich, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, als er zu ihm sagt: „Mama is arbeiten! Mama tommt!“ Und dann schlappen sie gemeinsam davon, als wollten sie mir mit der Szene beweisen: „Siehste! Läuft doch. Wir kommen klar.“ Und das wollten wir doch so, stimmt’s?