Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Helikoptern oder deeskalieren?

Können die das alleine lösen? Oder brauchen sie unsere Hilfe?

Mein kleiner Bruder hatte im Freibad einmal Ärger mit einem älteren Jungen. Den Grund weiß keiner mehr. Auf jeden Fall hatte es der andere richtig auf ihn abgesehen. Es ging so weit, dass mein Bruder Nasenbluten hatte. Meine Mutter ist eine impulsive Frau. Sie ließ sich den Übeltäter zeigen. Als der die Wasserrutsche hinabsauste, wartete sie im Becken auf ihn. Mit ruhiger Stimme ging sie langsam auf den Jungen zu. Und dann knallte sie ihm eine. Anschließend drohte sie dem verschreckten Kerl noch schlimmere Dinge an, sollte er es wagen, eine solche Gemeinheit noch einmal zu begehen. 

Diese Geschichte hat sich Anfang der neunziger Jahre abgespielt. Der alte Bademeister, der schon damals Dienst im Freibad tat, hat sie mir bei einem Heimatbesuch erzählt und zum Schluss gesagt: „Heute könntest du das nicht mehr bringen.“ Er hat recht, zum Glück.

Unser Sohn Theo hat ein offenes Wesen, redet sehr gern und hat jede Menge Selbstvertrauen, noch mehr als mein Bruder damals. Nach unserem Umzug in die fränkische Provinz schloss er schnell Freundschaft mit den Nachbarskindern, insbesondere mit den beiden Jungen. Sie spielten ständig miteinander. Selten gab es Streit. Der Altersunterschied, der Jüngste war damals sechs, mein Sohn fast sieben und der älteste zehn Jahre alt, spielte keine Rolle. Es herrschte Harmonie. Bis Olli dazukam.

Eine Zeit lang verging kein Nachmittag, an dem Theo nicht heulend ins Haus kam. Es hatte Streit gegeben – mit Olli. Ollli hatte ihn geärgert oder beim Fußball umgehauen. Olli ist der gleichaltrige beste Freund des zehnjährigen Nachbarsjungen. Olli ist sehr dominant. Er will bestimmen, was wie gespielt wird. Da ist er meinem Sohn sehr ähnlich, weshalb die beiden so oft aneinandergerieten.

Die ersten Male habe ich Theo getröstet und beruhigt. Aber als er wiederholt weinend ins Haus kam, ich ihn fragte, was passiert sei und er sagte, Olli habe ihn absichtlich aus einem Meter Entfernung mit dem Lederball abgeschossen, ging ich raus und stellte den Jungen zur Rede. Olli beteuerte, es sei ein Versehen gewesen. Ich nahm das zähneknirschend hin und appellierte an seine Vernunft. Schließlich sei er dreieinhalb Jahre älter und sollte Streitereien ohne Gewalt lösen.

Am nächsten Tag kam Theo wieder weinend ins Haus. Auf meine Nachfrage schniefte er, Olli habe die anderen Jungen dazu angestiftet, ihn immer wieder zu ärgern, egal, was er sagte. Wieder ging ich raus und fragte in die Runde, was passiert sei. „Gar nichts“, antwortete Olli. Die anderen schwiegen und blickten auf den Boden. Ich fragte, warum Theo weine, wenn nichts gewesen sei? „Keine Ahnung“, sagte Olli und zog die Schultern hoch. Ich wurde wütend. Mit erhobener Stimme und Zeigefinger drohte ich ihm Ärger an, sollte so etwas noch einmal passieren. Dann ging ich rein. Die Jungen sahen mir nach. Nach einer halben Stunde ging Theo wieder nach draußen. Ich war beunruhigt und konnte mich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Stattdessen beobachtete ich die Kinder durchs Küchenfenster und lauschte, worüber sie sich unterhielten. Dabei sah mich der Nachbarsjunge und sagte es Olli.

Ich kam mir dämlich vor. In dieser Buhmann-Rolle bei den Kindern gefiel ich mir überhaupt nicht. „Helikopter-Vater“, dachte ich. „Du benimmst dich genauso wie diese Prenzlauer-Berg-Eltern, über die du dich immer lustig machst.“ Aber ich wollte meinen Jungen beschützen. Umzug, neue Schule, neuer Fußballverein, neue Umgebung – eine ganze Menge Neues für ein noch nicht einmal siebenjähriges Kind. Ärger mit einem fast vier Jahre älteren Jungen kann Theo nicht auch noch brauchen. Zudem war ich sauer auf Olli. In meiner eigenen Heile-Welt-Kindheit haben die Stärkeren die Schwächeren beschützt und ihre Überlegenheit nicht noch ausgespielt.

Abends sprach ich mit meiner Frau über die Sache. Sie sagte, ich solle mich zurücknehmen. Mein Eingreifen würde gar nichts bringen, im Gegenteil. Theo hätte es dadurch noch schwerer bei den anderen. Wir beratschlagten uns auch mit ihm. Wir erklärten, es sei für Olli nicht leicht zu akzeptieren, wenn plötzlich ein neuer Knirps dazukommt und bestimmen will, was gespielt wird. Wir gaben ihm den Rat, sich bei aufkommendem Streit zurückzuziehen. Reinkommen, ein Buch lesen und eine Runde alleine spielen. Danach wieder raus.

Die nächsten Nachmittage waren hart. Wenn Theo draußen war, konnte ich mich nicht besonders gut auf andere Dinge konzentrieren. Wenn ich die Kinder spielen sah, horchte ich innerlich schon auf die Türklingel. Er kam häufig rein. Ja, es habe wieder Streit gegeben. Er ging in sein Zimmer, ohne zu erklären, was passiert war. Aber Theo schlug sich gut. Wenn ich Olli sah, musste ich mich zwingen, ihn zu grüßen und kein grimmiges Gesicht zu ziehen, weil ich ihn für einen kleinen Fiesling hielt. Dann kamen Corona und die Kontaktbeschränkungen. Plötzlich war Olli weg und kein Thema mehr. Wochenlang beschränkten sich die Kontakte der Kinder auf die Nachbarschaft. Es waren harmonische Zeiten. Dann hatte der große Nachbarsjunge Geburtstag.

Olli kam vorbei, um zu gratulieren. Zum ersten Mal seit Wochen sah er seinen besten Freund. Während die anderen Kinder am Geburtstagstisch – natürlich mit Abstand – Kuchen aßen, stand Olli allein am Zaun. Zum ersten Mal sah ich in ihm nicht den großen, bösen Buben, der meinen Sohn ärgert, sondern ein Kind, das dazugehören möchte. Alle Kinder standen auf und begrüßten Olli, Corona-gerecht ohne Berührungen. In dieser Distanz lag eine große Zärtlichkeit. Auch Theo freute sich ihn zu sehen und fragte aufrichtig, wie es nur Kinder können, ob es ihm gut gehe. Sie unterhielten sich eine Weile, dann ging Olli.

Seit ein paar Wochen sind die Kontaktbeschränkungen weitestgehend aufgehoben. Olli ist regelmäßig in unserer Straße und alle Kinder verbringen Zeit miteinander: Sie spielen Fußball, hüpfen auf dem Trampolin oder liefern sich bei gutem Wetter Wasserschlachten. Klar gibt es mal Meinungsverschiedenheiten, aber keine Eskalationen mehr. „Papa, Olli sagt, ich hätte mich verändert“, sagte Theo neulich, als er ins Haus kam, um etwas zu trinken. Ich musste schmunzeln: „Kann sein. Vielleicht hat er sich ja auch verändert.“ – „Ja, er ist echt nett geworden. Wir bauen eine Bude, ich gehe wieder raus, Papa.“

Ich sehe Olli jetzt anders. Er ist ein normaler, wilder Junge, manchmal etwas grob, aber nicht boshaft. Inzwischen klingelt er bei uns, wenn sein Freund von nebenan nicht da ist und fragt, ob Theo spielen kommt. Klar, in ein, zwei Jahren wird er keine Buden mehr mit kleinen Jungs bauen wollen. Aber bis dahin … Ich bin mir sicher, wenn ich noch ein Kind wäre, würde ich gerne mit Olli spielen wollen, auch wenn es mal gekracht hätte. Auch meine Mutter hätte ihn sicher gemocht. Manchmal lohnt es sich, Ruhe zu bewahren – und praktischerweise hat unser Sohn das auch gleich mitgelernt.