Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Homeschooling: „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“

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Digital ging nicht viel. Der Homeschooling-Start war für viele Schüler frustrierend.

Draußen schneit es. Es hat gefroren. Der Schnee wird liegen bleiben. Die Kinder stehen am Fenster und freuen sich. Gleich wollen sie einen Schneemann bauen. Aber erst einmal geht es zurück zum Schreibtisch. Der Wochenplan will ordnungsgemäß abgearbeitet werden. Deutsch ist fertig, jetzt ist Mathe dran.

Heute ist Dienstag. Erst in der vergangenen Woche hatte ich über Homeschooling geschrieben. In dem Text hatte ich vor allem uns Eltern in die Pflicht genommen. Wir sollten Vorbilder sein und den Heimunterricht mit Eifer und Optimismus angehen. „Den Stier bei den Hörnern packen“, wie es so schön heißt. Ich wollte auch eine Fortsetzung zum Homeschooling schreiben – allerdings erst in der kommenden Woche. Aber der Stoff, der in den ersten anderthalb Tagen angefallen ist, reicht schon jetzt für eine Fortsetzung.

Meine Frau und ich haben uns wirklich gut auf Homeschooling 2.0 vorbereitet. Am Wochenende waren wir joggen, der Kühlschrank ist voll. Sonntagabend haben wir einen knackigen Wochenplan entworfen: Um 6:30 Uhr klingelt der Wecker, ein erster Kaffee. Um 7 Uhr wecken wir die Kinder. Um 7:30 h gibt´s Frühstück, den zweiten und dritten Kaffee. Um 8 Uhr sitzen wir am Schreibtisch. Die Kinder dürfen noch eine Weile spielen, um 8:30 Uhr beginnt dann der Unterricht.

Theo geht in die 3. Klasse, seine Schwester Tina kommt zwar erst im Sommer in die Schule, möchte aber auch unbedingt Schularbeiten machen. Also haben wir ihr ein Vorschulheft mit verschiedenen Aufgaben besorgt, die sie emsig beackert.

Auch die Lehrerin hat gute Vorarbeit geleistet. Sie hat ihrer Klasse einen abwechslungsreichen Wochenplan zusammengestellt, mit analogen und digitalen Aufgaben. Schreiben, lesen, rechnen, malen – mit Stift und Zettel sowie am Tablet. Da gibt es nichts zu klagen.

Das Material hat sie über die App schul.cloud verschickt. Über diese kommunizieren wir Eltern seit Beginn des Schuljahres mit ihr. Bis jetzt lief es einigermaßen, aber am Montagmorgen gab es erste Probleme: Das System schien überlastet. Es war immer wieder offline, zeigte Nachrichten gar nicht oder mit Verspätung an. Die Unsicherheit in der Elternschaft wuchs, denn für den heutigen Dienstag waren drei Videokonferenzen mit je drei Schülern anberaumt. Damit meinte es die Lehrerin gut: Wenn die Kinder sich schon nicht in der Schule sehen können, sollen sie wenigstens digital miteinander reden.

Den Prozess zu schildern, der nötig war, um diese drei Chat-Gruppen zusammenzustellen, wäre einen eigenen Beitrag wert. Hier würde es den Rahmen sprengen. Darum nur so viel: Als Elternsprecher haben zwei Mütter und ich die Gruppen mit Hilfe einer Online-Umfrage schließlich zusammengepuzzelt.

Die erste Gruppe sollte heute am Dienstag um 9.30 Uhr starten. Die Klassenlehrerin wollte einen Link verschicken, über den wir uns dann via schul.cloud einwählen sollten. Es wurde 9.30 Uhr, dann 9.32 Uhr und 9.33 Uhr. Theo stand erwartungsfroh vor dem Rechner, freute sich auf seine Freunde und fragte, wann es denn nun losgehe. Ich starrte ebenfalls mit Herzklopfen und nicht ohne Skepsis auf mein Handy. Nichts geschah. Es wurde 9.35 Uhr.

Zum Glück kommunizieren wir Eltern untereinander über einen Messenger-Dienst. Der funktioniert immer, auch heute. Ich schrieb: „Acht Kinder samt einem Elternteil sitzen gebannt vor dem Rechner und warten. Ich habe es direkt vor Augen. …“

Antwort einer Mutter: „Du hast sooo recht (Lach-Smiley).“

„Exactly“, meinte eine andere Mutter.

Wir warteten weiter.

„Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“, dachte ich.

Die erste Mutter schrieb – jetzt ohne Lach-Smiley – es war inzwischen 9.40 Uhr: „Ich hoffe, es klappt in den nächsten zehn Minuten. Ich muss zur Arbeit.“

Unsere Kinder habe ich inzwischen zum Schneemannbauen nach draußen geschickt. Ich hatte einfach keine Geduld mehr für Theos Dauergefrage.

Dann endlich eine Nachricht über die schul.cloud: Die Klassenlehrerin. „Es tut mir leid, aber das Programm schickt mir keinen Konferenzraum und meldet mir auch nicht warum. Ich nehme an, dass das Videokonferenztool überlastet ist. Was machen wir? Warten oder später einen zweiten Versuch starten? Vielleicht sind dann weniger Nutzer unterwegs.“

Nach einem kurzen Hin und Her schlug sie einen Videochat über Zoom vor. Das ist die Plattform, vor deren Gebrauch Datenschützer während des ersten Lockdowns noch warnten. Mir war es egal. Sie wollte die Konferenz gleich einrichten und den Link schicken. Ich wartete und wartete, bekam aber nichts. Seltsam. Plötzlich zeigte mir die App eine Nachricht an. Die Lehrerin hatte den Link geschickt – vor zwölf Minuten.

Ich hastete zum Rechner und wählte mich ein. „Ah, da ist ja auch… Theos Vater“, sagte sie erfreut, als die Verbindung stand. Ich blickte ihr Gesicht und in die von sieben neugierigen Kindern. Ich rief Theo. Dann konnten die Kinder endlich miteinander reden. Es ging um Weihnachtsgeschenke, Silvester und Böller. Ich atmete durch, ging zum Kühlschrank und brach mir von einer XXL-Tafel ein daumendickes Stück Schokolade ab. Wie gesagt, alles gut vorbereitet.

Die Kinder waren kurz darauf wieder im Garten mit dem Schneemann beschäftigt. Sie rollten große Schneekugeln über den Rasen und hatten Spaß. Ich griff wieder zum Handy und bat im Klassenchat darum, den Zoom-Link künftig über den Messenger zu teilen und erzählte von meiner Erfahrung mit der verspäteten Nachricht.

„Welcome to Germany“, kommentierte eine Mutter sarkastisch.

Dann ging es um den nächsten Chat. Gegen Zoom hatte niemand Einwände. Irgendwie ging es allen Eltern gleich: Hauptsache, es funktioniert jetzt mal etwas. Der zweite Chat lief dann problemlos.

Ich holte mir einen Kaffee und ein weiteres Stück Schokolade. Im Garten stand jetzt ein stolzer Schneemann mit Karottennase und grinste mich an.

„Welcome to Germany“ – ich dachte darüber nach. In Schulen im ganzen Land gab es seit Montag Probleme mit Lernprogrammen – ob sie Moodle, Mebis, oder iServ heißen. Einige Schüler konnten überhaupt nicht digital arbeiten oder flogen immer wieder aus ihren Chats.

Ich habe viel Verständnis und wenig Ahnung von Technik. Aber dass die Zugriffe auf die Lernprogramme steigen würden, wenn das ganze Land im Homeschooling ist, das war selbst für mich absehbar. Meiner Meinung nach haben die Verantwortlichen die Sache vor die Wand fahren lassen – frei nach der Devise: „Wird schon schiefgehen“.

Wer die Schuld für dieses Desaster trägt, die Anbieter, die ihre Server nicht entsprechend verstärkt haben oder Politiker, die zu wenig Druck ausgeübt haben, ist offen. Die Verlierer stehen aber fest. Das sind die Schüler, die sich mit genervten, überforderten Eltern herumschlagen müssen, die ihrerseits einfach möglichst ohne Schaden durch diese Zeit kommen wollen. Ich kann mich des Eindrucks trotz aller Appelle und Beteuerungen nicht erwehren: Kinder und Familien sind in dieser Gesellschaft irgendwie nicht so wichtig wie andere Dinge. Das zeigt der Start dieses Homeschoolings.

Ein dumpfes Geräusch im Garten, ich schaue aus dem Fenster: Der Schneemann ist eingestürzt. Die Karottennase liegt im Dreck.