Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Fahrradprüfung bei Wachtmeister Dimpfelmoser

Etwas altmodisch, aber erfolgreich: Wachtmeister Dimpfelmoser hat den Räuber Hotzenplotz geschnappt.

Die Fahrradprüfung ist eine sehr ernste Angelegenheit. Eltern mit Kindern im Grundschulalter wissen das oder sollten das wissen. Wochenlang üben die Viertklässler, Theorie und Praxis. Bei uns in Bayern ist die Radprüfung in der 4. Klasse sogar Gegenstand des Heimat- und Sachunterrichts (HSU).

Jeden Dienstagmorgen marschierte die Klasse unseres Sohnes den guten Kilometer von der Schule rüber zum Verkehrsübungsplatz – auch bei Regenschauern und Temperaturstürzen unter null Grad. Dort erwarteten die Schüler jede Menge Verkehrsschilder, Kreuzungen, Kurven, Ampeln und – vor allem erwartete sie Herr Schneider.

Herr Schneider hat die sechzig Jahre schon überschritten. Sein Haar ist noch immer voll und dunkel, zumindest der Teil, den man unter seiner blauen Mütze erkennt. Seine dunkelblaue Uniform sitzt perfekt. Er sieht fit aus, kein bisschen Bauchansatz. Problemlos könnte Herr Schneider in einem Werbespot für Golden Ager mitspielen. Herr Schneider ist Polizist bei uns im Ort und immer dann zur Stelle, wenn ein Anlass einen Polizisten an der Schule erfordert, wie eben bei der Fahrradprüfung.

Als ich Herrn Schneider zum ersten Mal sah, am ersten Tag des neuen Schuljahres nach unserem Umzug nach Franken muss es gewesen sein, stand er allein vor der Schule, direkt am Eingang, wo er alles im Blick hatte. Ein Hüter des Gesetzes, der allein über die wichtigste Kreuzung der Großstadt wachen und mit einer Handbewegung den kompletten Verkehr zum Stillstand bringen könnte, wenn es nötig wäre. War es aber nicht. So begnügte sich Herr Schneider damit, Eltern und Kinder freundlich zu grüßen und die Szenerie und seine Rolle in dem Ganzen zu genießen. Wobei seine Rolle offenbar nur darin bestand, am ersten Tag des neuen Schuljahres präsent zu sein. Stolz und sich selbst vielleicht eine Spur zu wichtig nehmend. Ein Traumschiffskapitän beim Kapitänsdinner.

Immer wenn ich Herrn Schneider sehe, muss ich an Wachtmeister Dimpfelmoser denken, den Polizisten aus Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“. Wobei ich ihm damit ein bisschen unrecht tue, denn Wachtmeister Dimpfelmoser stellt sich bei der Verfolgung des Schurken nicht besonders clever an. Herr Schneider macht seinen Job beim Üben für die Fahrradprüfung dagegen tadellos. Die Kinder haben riesigen Respekt vor ihm und folgen seinen Anweisungen und Ermahnungen ohne Widerworte.

Was bei Preußlers Dimpfelmoser die Pickelhaube und der Schnauzbart, sind bei Herrn Schneider die Art, wie er die Uniform trägt, seine etwas staatstragende, überkorrekte Haltung und die Bedeutungsschwere, mit der er seine Umwelt mit jeder Bewegung wissen lässt: Hier steht ein Polizist, ich habe alles im Griff. Beide Figuren scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. Aber beide erfüllen ihre Aufgabe: Letztlich bringt Dimpfelmoser den Räuber Hotzenplotz hinter Schloss und Riegel, und Herr Schneider bringt den Viertklässlern die Verkehrsregeln bei: Er erklärt ihnen Vorfahrtsregeln, wie man sich beim Abbiegen verhält, und er kontrolliert bei der Radfahrprüfung mit strengen Augen, ob sie das Gelernte auch umsetzen.

Ich habe in meinem Leben einige Wachtmeister Dimpfelmosers getroffen. Es müssen nicht zwangsweise Polizisten sein. Sie zeichnen mehr durch ihre Eigenschaften aus: Sie sind altmodisch, streng, etwas kauzig und müssen hundertzehnprozentig hinter ihren Aufgaben stehen, unbestechlich und konsequent. Dimpfelmosers können Lehrer, Sporttrainer oder Bademeister sein. Der Bademeister in unserem Freibad hieß Louis und war ein echter Dimpfelmoser. Immer weiß gekleidet. Goldkette, etwas untersetzt und schon mit Mitte dreißig ziemlich kahl. Ein netter, in sich ruhender Kerl, der gerne mit Badegästen schäkerte. Bei Bedarf konnte Louis aber von einer auf die andere Sekunde in den Profi-Bademeister-Modus umschalten. Sprang jemand im verbotenen Bereich ins Becken, gab es einen Pfiff und eine klare Ansage. Als Kinder hat uns das natürlich herausgefordert. Wir hatten eine Wärmehalle mit einem Whirlpool, in die man nur über ein Drehkreuz reinkam, wenn man eine Mark bezahlte. Natürlich kletterten wir einfach so drüber. Es war stets ein Nervenkitzel, ob Louis uns erwischte oder ob wir die Mutprobe unentdeckt überstanden. Mal ging es gut, mal schief.

Irgendwann musste Louis ein Zeichen setzen: Er drohte uns mit einer Woche Freibadverbot, falls wir noch einmal über die Barrikade kletterten sollten. Wir machten es dennoch, er erwischte uns und fragte: „Leute, was soll ich machen? Ich habe es euch doch gesagt. Das war nicht besonders schlau.“ Vor uns lag die längste und trockenste Sommerwoche unseres Lebens. Trotzdem war keiner von uns böse auf Louis.

Zurück zu Herrn Schneider: Auch er hat den Kindern vor der Fahrradprüfung Ansagen gemacht: „Leute, wenn ihr an der Stopp-Straße nicht anhaltet und beim Linksabbiegen nicht die Vorfahrt achtet, kann ich euch nicht bestehen lassen.“ So kam es. Einige schaffen es, ein paar fielen durch. Aber niemand suchte die Schuld bei Herrn Schneider.   

Vermutlich gibt es in Berlin, Frankfurt und anderswo moderne Polizisten, die den Kindern die Verkehrsregeln vor der Radfahrprüfung spielerischer, weniger streng und didaktisch eingängiger erklären als Herr Schneider. Wir wissen nicht, wie er zu dieser Aufgabe gekommen ist. Möglicherweise hat er andere Polizeiarbeit lieber gemacht, wurde aber altersbedingt in den „Schuldienst“ versetzt. Es spielt keine Rolle. Herr Schneider erledigt diese Aufgabe so gut er kann und mit voller Überzeugung: streng, gewissenhaft, verlässlich und verantwortungsvoll. Ich mag das, auch wenn seine Art altmodisch ist.

In unserem Freibad gibt es eine Bademeisterin mit rotgefärbtem Haar und tätowierten Armen. Sie ist jung und hat ihr Freibad picobello im Griff. Sie ist streng, spricht aber die Sprache der Jugend. Wenn sie den 5-Meter-Turm öffnet, herrscht Disziplin am Sprungbecken. Sie ist eine potenzielle Wachtmeisterin Dimpfelmoser – für mich und für die Kinder. Vielleicht sind rotes Haar und Tattoos ja irgendwann altmodisch. Louis wacht nicht mehr über das Freibad in meinem Heimatort. Er ist vergangenen Sommer in Rente gegangen. Wie lange Herr Schneider wohl noch die Fahrradprüfungen abnimmt?